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Bolivien gründet sich neu

Erstmals in seiner Geschichte entscheidet das Andenland per Referendum über die Annahme einer Verfassung. Morales sagt Sieg der "sozialsten Magna Charta der Welt" voraus

Von Benjamin Beutler *

Dieses Mal stimmen wir nicht über Evo oder eine Partei ab. Wir stimmen am Sonntag über eine Verfassung ab, welche die Gleichheit der Rechte garantiert und das Erreichte der letzten drei Jahre widerspiegelt«, warb Boliviens Präsident Evo Morales am Donnerstag auf einer Wahlveranstaltung für das »Ja«. In der Tieflandmetropole und Oppositionshochburg Santa Cruz de la Sierra wies er Vorwürfe von sich, er mißbrauche das Verfassungsprojekt zur »Neugründung Boliviens«, um sich »ewig an der Macht zu halten«. Vor Tausenden von Regierungsanhängern bat Morales alle Teile der bolivianischen Bevölkerung um ihre Stimmen. Der Urnengang entscheidet über die Annahme des im Dezember 2007 vom Verfassungskonvent ausgearbeiteten und im Oktober 2008 vom Kongreß modifizierten Textes. Die knapp vier Millionen Wahlberechtigten stimmen gleichzeitig über die Einführung einer Obergrenze von Landbesitz (5000 oder 10000 Hektar) ab.

Letzte Meldung:

Nach inoffiziellen Auszählungen, die kurz nach Schliessung der Wahllokale veröffentlicht wurden, stimmten rund 59 Prozent für und 41 Prozent gegen die neue Verfassung. Die Abstimmung verlief friedlich.



Eine hohe Zustimmung wäre bester Beweis, daß es am Sonntag »um eine Verfassung für alle Bolivianer« geht, erklärte Morales weiter. Er regiere nicht wie behauptet nur für die Armen und Indigenen des nach Haiti zweit­ärmsten Landes Südamerikas. »Wir sind nicht nur körperlich unterschiedlich, auch wirtschaftlich und geografisch: Im Andenhochland, in den Tälern, im bolivianischen Tiefland und im Amazonas«, hob das Staatsoberhaupt die erstmalig de jure anerkannte Vielfalt Boliviens hervor. Demgemäß strich die aus Guatemala kommende Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú die nicht hoch genug einzuschätzende psychosoziale Wirkung der neuen Verfassung heraus. »Ein Volk, das unterdrückt war, wo die indigenen Nationen nichts zählten«, erlange 500 Jahre nach der spanischen Kolonisierung die Möglichkeit, sich wieder »als etwas Eigenständiges zu begreifen«, erklärte die weltberühmte Menschenrechtsaktivistin aus der Ferne.

Unterstützung für das »Ja« kam auch aus Europa. »Viele europäische Universitäten haben unseren Verfassungsvorschlag analysiert«, so Morales. »Was die sozialen Eroberungen angeht, ist sie eine der fortschrittlichsten auf der Welt.« Alain Lipietz, Chef der EU-Wahlbeobachterkommission, lobte die politische Reife der indigenen Bewegung. Auf friedlichem Weg hätten sie ihre Forderung nach angemessener staatlicher Anerkennung ihrer Kultur und Rechte durchgesetzt: »Wir in Europa haben 1000 Jahre Kriege hinter uns, damit wir heute ein Parlament haben, in dem 23 Sprachen gesprochen werden«, so der Franzose. Allein die Verfassung werde die Probleme in Bolivien aber nicht lösen. Das Land habe noch einen weiten Weg vor sich, um die Einheit in der Vielfalt zu finden.

Dank der garantierten Rechte auf kostenlose Bildung und Gesundheit, religiöse Freiheit, Dezentralisierung durch departamentale, kommunale und indigene Autonomien, Kollektiv- und Privatbesitz sowie der Kultur und Sprache der indigenen Bevölkerungsmehrheit werde zukünftig keiner mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt, versprach Boliviens Staatsoberhaupt. Von der Opposition geschürte Ängste, die Regierung der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) werde nach dem 25. Januar mit Enteignungen von Privateigentum beginnen, verwies Morales ins Reich der Phantasien. Obwohl schon das geltende Grundgesetz Eigentum an die Erfüllung einer »sozialen Funktion« knüpft, verbreiteten Verfassungsgegner bis zuletzt das Gerücht, besitzlose Bauern könnten mit staatlicher Hilfe ganz legal die Häuser der Mittel- und Oberschichten leer räumen.

Boliviens Rechte wird trotz der im linken Lager umstrittenen Zugeständnisse an die Tieflandoligarchie – die Einführung der Obergrenze von Landbesitz gilt nicht rückwirkend, Großgrundbesitz bleibt so unberührt – am Sonntag eine weitere herbe Niederlage einstecken. »Das ›Ja‹ wird mit 78 bis 80 Prozent gewinnen«, so MAS-Parlamentarier Gustavo Torrico.

* Aus: junge Welt, 24. Januar 2009

Dokumentiert:

Präambel der neuen Verfassung Boliviens

In uralten Zeiten errichteten sich Berge, verrückten sich Flüsse, entstanden Seen. Unser Amazonas, Chaco, Altiplano und Täler bedeckten sich mit Grün und Blumen. Wir bevölkerten diese Heilige Mutter Erde mit unterschiedlichen Antlitzen, wir verstanden von da an die bestehende Vielfalt aller Dinge und unsere Verschiedenartigkeit als Menschen und Kulturen. So bildeten wir unsere Völker, und nie zuvor verstanden wir den Rassismus, bis wir ihn seit der unheilvollen Kolonialzeit erlitten. Das bolivianische Volk, von pluraler Zusammensetzung, aus der Tiefe der Geschichte kommend, inspiriert von den Kämpfen der Vergangenheit (...) und in Gedenken an unsere Märtyrer, konstruieren wir einen neuen Staat. Einen auf Respekt und Gleichheit gründender Staat, mit Prinzipien der Selbstbestimmung, Würde, Vervollkommnung, Solidarität, Harmonie und Gerechtigkeit in der Verteilung und Umverteilung des Sozialproduktes, in dem das Streben nach dem guten Leben vorherrscht; mit Respekt vor der wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen, politischen und kulturellen Vielfalt der Bewohner dieses Landes; im gemeinsamen Zusammenleben mit Zugang zu Wasser, Arbeit, Bildung, Gesundheit und Heim für Alle. Wir überlassen den kolonialen, republikanischen und neoliberalen Staat der Vergangenheit. Wir nehmen uns der historische Aufgabe an, gemeinsam einen einheitlichen kommunitär-plurinationalen Rechts- und Sozialstaat aufzubauen, der die Absicht beinhaltet und ausdrückt, voranzuschreiten zu einem demokratischen, produktiven Bolivien, Träger und Förderer des Friedens, der ganzheitlichen Entwicklung und der freien Selbstbestimmung der Völker verpflichtet. Wir (...) erklären unsere Verpflichtung zur Einheit und Integrität des Landes. Das Mandat unserer Völker erfüllend, mit der Kraft unserer Pachamama und dank Gott, gründen wir Bolivien neu.

Übersetzung: Benjamin Beutler




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