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"Separatismus verdeckt Klasseninteresse"

Die Regierung Boliviens hält trotz eines technischen Einspruchs der Wahlbehörde am Verfassungsreferendum fest. Ein Gespräch mit Sacha Llorenti

Sacha Llorenti ist in der Regierung Boliviens stellvertretender Minister für die Koordination mit den sozialen Bewegungen und der Zivilgesellschaft. Er führt zur Zeit Gespräche in Europa.



Frage: Sie sind in der Regierung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales zuständig für soziale Bewegungen. Wie hat man sich das vorzustellen?

Sacha Llorenti: Die sozialen Bewegungen haben große Bedeutung für unsere Regierung. Nicht nur weil der Präsident und die Mehrheit des Kabinetts selbst aus sozialen Bewegungen stammen. Sondern weil wir die politischen Veränderungen und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung im Austausch mit ihnen vornehmen.

Aber auch die Opposition in Ostbolivien wird von sozialen Bewegungen unterstützt, sprechen Sie auch mit denen? Mittlerweile hat das Bürgerkomitee von Santa Cruz ein Referendum über eine weitreichende Autonomie des Departamentos angesetzt ...

Ich weiß nicht, ob es soziale Bewegungen sind. Natürlich sind manche Vertreter der Opposition in der Gesellschaft in den Departamentos verankert. Doch das Bürgerkomitee von Santa Cruz hat offen gezeigt, daß es Partikularinteressen verteidigt. Der Vorsitzende des Komitees, Branco Marinkovic, kam schon mit vorherigen Regierungen in Konflikt, weil er Indigene von seinen Ländereien vertreiben ließ. Wir setzen dennoch weiter auf den Dialog, um eine demokratische Lösung zu finden.

Wie könnte die aussehen?

Um die Realität Boliviens zu verstehen, muß man sich die Verteilung des Grund- und Bodenbesitzes ansehen. Vor ein paar Tagen wurde der stellvertretende Minister für Landfragen von einer bewaffneten Gruppe entführt und mehrere Stunden von Viehbaronen festgehalten. Kurz zuvor hatte Evo Morales angekündigt, daß in dieser Zone 180000 Hektar enteignet und unter den Guaraní-Indigenas verteilt werden, die immer noch wie Sklaven leben. Wenn man sich fragt, wer die separatistische Bewegung in Bolivien anführt, stellt man fest, daß es diese großen Landbesitzer sind -- wie Branco Marinkovic. Unsere neue Verfassung will nicht nur eine Landreform, sondern auch den Grundbesitz begrenzen. Eine der Fragen, über die das Volk abstimmen soll, ist die Höchstgrenze von Land, die eine Person besitzen darf: 10000 oder 100000 Hektar.

Teile der Opposition werfen der Regierung vor, mit der neuen Verfassung einen Staatstreich durchzuführen ...

Sie wollen den Wandel verhindern und sich regional das sichern, was sie vorher auf nationaler Ebene besaßen. Ihre Privilegien wurden bislang von der Regierung in La Paz gewahrt. Während der Diktaturen wurde Grundbesitz illegal verschenkt; und der Staat vergab Kredite in Millionenhöhe, die nie zurückgezahlt wurden. Und jetzt, wo wir diesen Mißbrauch verhindern wollen, ziehen sich die Nutznießer dieser Politik in die Regionen zurück. Es gibt Gruppen, die auf Gewalt setzen und unsere Regierung stürzen wollen. Schon vor Antritt unserer Regierung im Jahre 2004 wurde bekannt, daß es in der Region Santa Cruz 14 paramilitärische Verbände gibt. Mittlerweile dürfte sich diese Zahl vervielfacht haben.

Die Anführer der Opposition mögen zwar Großgrundbesitzer sein, dennoch erhalten sie in Ostbolivien auch Zuspruch von unten. Wie wollen Sie das Problem lösen?

Wir fordern auch Autonomien, doch diese müssen die nationale Einheit respektieren, die Gleichheit und Solidarität unter den Bolivianern. Doch an dieser Art von Autonomie hat die Opposition kein Interesse. Sie wollen die Ressourcen und das Land selbst verwalten. Sie wollen nicht nur einen eigenen Mineralölkonzern, sondern auch eine eigene Polizei und eine separate Staatsangehörigkeit. Sie halten zwar die Fahne der Autonomie hoch, doch das ist separatistisch -- und verdeckt klare Klasseninteressen. Der Präsident hat zum Dialog aufgerufen. Wir müssen die Autonomiestatute der Departamentos mit der neuen Verfassung in Einklang bringen. In ihrer bisherigen Form verletzen sie bestehende Gesetze.

... und wenn die Opposition nicht auf Ihr Gesprächsangebot eingeht?

Wenn der Dialog nicht fruchtet, wird das Volk entscheiden. Wir werden auf jeden Fall ein Referendum über die Verfassung abhalten, auch wenn wir es jetzt wegen eines technischen Einspruchs der Obersten Wahlbehörden um einen Monat verschieben müssen.
[Das Referendum war ursprünglich für den 4. Mai angesetzt, siehe dazu Berichte im Kasten.]

Interview: Timo Berger

* Aus: junge Welt, 11. März 2008

Bolivien einen Schritt weiter

Kongreß genehmigt Verfassungsreferenden und bremst Autonomie-Bestrebungen

Von Benjamin Beutler **


Der Kongreß in Bolivien hat am Freitag nachmittag (Ortszeit) auf Antrag der Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) grünes Licht für zwei Referenden gegeben. Mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit stimmten Abgeordnetenkammer und Senat Volksbefragungen über die im Dezember ausgearbeitete Verfassungsreform ebenso zu wie einem »beratenden Referendum«, über eine gesetzliche Höchstgrenze für Landbesitz. Beide Urnengänge sollen am 4. Mai stattfinden. Ebenfalls beschlossen wurde eine Regelung zu Referenden in den Departements des Landes. Auch auf regionaler Ebene können Volksbefragungen demnach nur vom Kongreß anberaumt werden. Die Legislative reagierte damit auf den Vorstoß oppositioneller Regio­nalpolitiker, eigenmächtig Referenden über selbst entworfenen »Autonomie-Statute« zu organisieren.

Die Abstimmung in La Paz, dem Sitz der Regierung, wurde am Freitag (29. Februar) von Tausenden Regierungsanhängern und Vertretern sozialer Bewegungen gefeiert. Kokabauern, Land- und Bergarbeiter aus Staatsbetrieben waren schon seit mehreren Tagen im Regierungs­viertel präsent -- auch, um oppositionellen Protesten von vornherein den Raum zu nehmen. Der Senator der rechtsgerichteten Partei Podemos Tito Hoz de Vila stellte die Rechtmäßigkeit des Votums indes in Frage. Die MAS, sagte er in der bolivianischen Presse, habe gegen die Kongreßordnung verstoßen. Die Genehmigung der Referenden sei ohne das erforderliche Quorum erfolgt, »weil fünf Senatoren den Saal vor der Abstimmung verlassen haben«. MAS-Abgeordneter Iván Canelas sieht das anders. So hätten zwar in einer offensichtlich abgesprochenen Aktion fünf oppositionelle Senatoren den Saal verlassen, bei der Abstimmung dann seien jedoch wieder zwei Stellvertreter ihrer Parteien anwesend gewesen, die für die Regie­rungsinitiative gestimmt hätten. Diese beiden dissidenten Oppositionspolitiker seien von den eigenen Leuten als »Verräter« beschimpft worden, so Canelas.

Der Kongreßbeschluß ist ein bedeutender Erfolg für Präsident Evo Morales, der das Land mit einer novellierten Verfassung »neu gründen« will. Das ist auch notwendig, um das Patt zu überwinden. Der MAS gelingt es zwar weiterhin, in entscheidenden Momen­ten ihre Anhänger zu mobilisieren. Aber wie schon im Verfassungskonvent versucht eine labile und zerstrittene Opposition, die permanent drohenden Abstimmungsniederlagen aber durch Wahlboykotte zu verhindern, oder Niederlagen nachträglich juristisch anzufechten. Für den Fraktionschef der MAS, César Navarro, steht sie damit allerdings auf verlorenem Posten: »Das Volk kann sich jetzt selbst zum Verfassungsprojekt äußern.«

junge Welt, 3. März 2008

Bolivien: Gericht untersagt Referendum

La Paz. Der bolivianische Präsident Evo Morales hat vor dem Obersten Wahlgericht des Landes eine schwere Niederlage erlitten. Das Gericht untersagte am Freitag (Ortszeit) ein für den 4. Mai geplantes Referendum über eine neue Verfassung. Für die Volksabstimmung fehlten »die technischen, legalen und politischen« Grundlagen, sagte der Gerichtspräsident José Luis Exeni.(AFP/jW)
jW, 10. März 2008




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