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"Wir sind eine Regierung des Dialogs"

Boliviens Außenminister David Choquehuanca Céspedes über den Prozess der Neugründung

Spätestens seit der Verabschiedung des Verfassungstextes am 10. Dezember steht Bolivien vor der Zerreißprobe, da die Tiefland-Provinzen auf Abspaltung drängen. Die Regierung propagiert den Dialog. Außenminister David Choquehuanca Céspedes weilte letzte Woche zu politischen Gesprächen in Deutschland. Der 46-Jährige wuchs in einem Dorf am Titicacasee auf und hat in der indigenen Basisbewegung gearbeitet. Über den Stand der Neugründung Boliviens sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Knut Henkel.



ND: Herr Minister, Berichten zufolge zieht sich ein tiefer Graben durch die bolivianische Gesellschaft. Wie ist es möglich, diese Polarisierung abzubauen?

David Choquehuanca Céspedes: Wir setzen grundsätzlich auf den Dialog statt auf Konfrontation und wollen über unsere Politik auch an den Urnen abstimmen lassen. Daher haben wir auch dem Referendum über eine Autonomie der neun Departamentos (vergleichbar mit den Bundesländern in Deutschland) zugestimmt. Das Volk soll entscheiden - es ist die oberste Autorität in unserem Land.

Welche Bedeutung hat das Privateigentum? Laut der neuen Verfassung soll das Privateigentum eine soziale Funktion haben.

Wir versuchen, die Hoheit über unsere nationalen Ressourcen wiederzugewinnen. Ein strategischer Sektor unserer Wirtschaft ist nun einmal die Erdgasförderung sowie die Energieversorgung im Allgemeinen. Aber auch der Bergbau, die Telekommunikation, die öffentliche Wasserversorgung oder die Stromerzeugung sind aus unserer Sicht strategische Sektoren.

Ihre Regierung hat angekündigt, weitere vier internationale Unternehmen zu verstaatlichen. Was bieten Sie den Unternehmen an?

Sie dürfen nicht vergessen, dass wir uns bei den bisherigen Schritten immer mit den internationalen Unternehmen geeinigt haben. Es wurden neue Verträge ausgehandelt und zwar einvernehmlich, denn es war letztlich doch unstrittig, dass die alten Konditionen oftmals sehr einseitig waren und unter fragwürdigen Bedingungen zustande gekommen sind. Mit den neuen Verträgen profitiert endlich wieder die ganze Nation von den nationalen Reichtümern. Das ist ein Fortschritt aus unserer Sicht.

Allerdings scheint das Vertrauensverhältnis zu den Unternehmen nicht das Beste, denn die Investitionen im Energiesektor sind Medienberichten zufolge rückläufig?

Das stimmt so nicht, denn 2007 konnten wir Auslandsinvestitionen in noch nie da gewesenem Ausmaß verbuchen. Wir bemühen uns weiter um internationale Investoren, sie haben ein Recht auf Gewinne und das garantieren wir ihnen auch. So sind sämtliche neue Verträge im Erdgassektor durch den Kongress gegangen, wodurch die Unternehmen ein hohes Maß an Rechtssicherheit für ihre Investitionen haben. Natürlich wissen wir auch, dass wir Investitionen brauchen, denn auf diesem Weg kommt auch moderne Technologie ins Land und auf die sind wir angewiesen, um die Armut in unserem Land effektiv zu bekämpfen.

Was tut Ihre Regierung, um Vertrauen zurückzugewinnen?

Wir gehen sehr transparent mit unseren Entscheidungen um, und auch mein Besuch in Deutschland und in anderen europäischen Ländern dient dazu, die oftmals nicht korrekte Darstellung in den nationalen und auch internationalen Medien zurechtzurücken. Wir werben um Vertrauen und um Verständnis für die Entscheidungen, die wir getroffen haben. Schließlich wollen wir Bolivien endlich aus der Armut führen, denn unser Land ist ein reiches Land mit vielen Ressourcen. Die kamen der Bevölkerung jedoch bisher kaum zugute.

Allerdings gilt eine Wirtschaft, die mehr und mehr vom Staat dirigiert wird, nicht gerade als Erfolgsmodell ...

Wir wollen die Wirtschaft nicht dirigieren, sondern endlich die Hoheit über unsere eigenen Ressourcen wiedergewinnen, um diese Reichtümer gerechter zu verteilen. Das ist unser erklärtes Ziel und wir brauchen Ressourcen, um unsere Ziele auch umzusetzen. Die Verfassung erkennt die Realität einer von zahlreichen Akteuren und Realitäten geprägten Wirtschaft an und spricht sich für eine gemischte und pluralistische Wirtschaft aus, in der das öffentliche, kommunale und private Eigentum geschützt ist. Dabei ist die Prämisse unumstößlich, dass die strategischen Ressourcen im Besitz des bolivianischen Volkes sein und diesem auch zugute kommen müssen.

Die Verfassung garantiert der Bevölkerung das Recht auf Ernährung, auf Bildung, Gesundheit und so weiter. Wie soll das umgesetzt werden?

Genau deshalb müssen wir die Staatseinnahmen erhöhen, um mehr zum Verteilen zu haben. Da schließt sich der Kreis.

Allerdings gibt es beachtliche Widerstände dagegen.

Ja, das ist richtig, es gibt Widerstände, Angriffe, wüste Beschimpfungen und Diffamierungen von gewählten Vertretern durch Demonstranten. So ist die Justizministerin Celima Torricio gemeinsam mit anderen Abgeordneten in Sucre verbal und körperlich angegriffen und beleidigt worden. Wir, also die Regierung, lassen uns jedoch dadurch nicht provozieren -- wir werden an unserer Politik des Dialogs, der Verständigung und Partizipation festhalten.

Wird das reichen, um die tiefen Gräben zwischen Hoch- und Tiefland zuzuschütten?

Das hoffe ich, denn schließlich vertritt die demokratisch legitimierte Regierung die Bevölkerungsmehrheit. Diejenigen, die unsere Regierung diffamieren, ihre Mitglieder teilweise wüst und rassistisch beleidigen, sind definitiv in der Minderheit. Das wird in der nationalen und teilweise auch in der internationalen Presse oft nicht vermittelt. Das Problem in Bolivien ist, dass die Medien nicht immer objektiv und unabhängig sind. Einige der einflussreichen Kanäle und Printmedien sind in den Händen derjenigen, die mit dem von unserer Regierung angestrebten Umbau nicht einverstanden sind. Ein Beispiel: Derzeit gibt es rund 40 000 landlose Bauern in der Region von Santa Cruz, die keine Perspektiven haben, weil ihre Väter nur einige wenige Hektar Land besitzen. Diese jungen Menschen drängen zwangsläufig in die großen Städte des Landes, obgleich in der gleichen Region große Landstriche brachliegen und einzelne Großgrundbesitzer 40 000 Hektar und mehr besitzen. Diesen Problemen müssen wir uns stellen.

Welche Bedeutung hat die Aus- und Weiterbildung für die Regierung? Gibt es ein Defizit an qualifiziertem Personal in Bolivien?

Zweifelsohne gibt es einen großen Nachholbedarf. Ich selbst habe keine akademische Ausbildung und ich bin nicht der Einzige im Kabinett. Wir haben viel zu lernen und wir wollen lernen, denn allzu lange hat die indigene Mehrheit nicht oder zu wenig am Ausbildungssystem partizipiert. Das muss sich ändern und das ändert sich bereits, denn der Wahlsieg hat das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein der indigenen Völker in Bolivien gesteigert.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Januar 2008


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