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"Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe"

Gespräch mit David Choquehuanca Céspedes. Über die neue Verfassung für Bolivien, den Kampf gegen Armut und eine transparente Investitionspolitik sowie das Ende der Abhängigkeit von Washington und die neue Zusammenarbeit mit Venezuela, Kuba und Nicaragua

David Choquehuanca Céspedes ist seit 2006 Außenminister von Bolivien. Er stammt aus Cota Cota Baja, einer indigenen Dorfgemeinschaft am Titicaca-See. Seit den 1980er Jahren engagierte er sich in sozialen Bewegungen, u.a. in der indigenen Bauerngewerkschaft CSUTCB.



Frage: Deutschland engagiert sich vor allem im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien. Nach den USA und Japan ist die BRD der drittgrößte Geldgeber für Hilfsprojekte. Was war der Grund Ihres Berlin-Besuchs, Herr Außenminister?

David Choquehuanca Céspedes: Natürlich geht es mir auch darum, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu vertiefen. Doch der eigentliche Grund meiner Reise ist ein anderer: Bolivien macht gerade einen historischen Moment durch. Wir sind dabei, uns eine neue Verfassung zu geben. Es handelt sich um eine komplizierte, risikoreiche Geburt. Ich möchte in Gesprächen mit Regierungsmitgliedern, Vertretern von Parteien, Gewerkschaften und Medien in Deutschland und den anderen Ländern, die ich in Eu­ropa besuchen werde, von diesem Prozeß berichten und um Verständnis werben für den politischen und ökonomischen Wandel, der gerade in Bolivien stattfindet.

Was charakterisiert diesen Wandel?

In Bolivien gab es in den vergangenen fünfhundert Jahren eine systematische Plünderung der natürlichen Ressourcen. Die Mehrzahl der Bevölkerung hat von dem Reichtum des Landes nie profitiert. Die aktuelle Regierung hat entschieden, diese Situation nicht mehr länger hinzunehmen. Unser Präsident, Evo Morales, ist fest entschlossen, die Interessen der Mehrheit der Bolivianer zu verteidigen. Doch um wirklich etwas zu verändern, genügt es nicht, ein paar Gesetze zu erlassen, sondern wir mußten ein Forum schaffen, um den Wandel auf friedliche Weise voranzubringen. Und deshalb haben wir eine Verfassunggebende Versammlung einberufen. Die Bolivianer gaben ihr 2006 durch Wahlen den Auftrag, eine neue Konstitution auszuarbeiten.

Der Prozeß der Verfassungsgebung war von Anfang schwierig: Eine kleine Gruppe von Menschen in Bolivien ist gegen den Wandel. Es sind diejenigen, die sich jahrelang bereichert haben, die den Staat ausgenutzt und das Land unter sich aufgeteilt haben. Sie wollen verhindern, daß wir – wie die neue Verfassung vorsieht – Grund und Boden nach sozialen Gesichtspunkten mit Hilfe einer Landreform neu verteilen – was vor allem den bislang sehr benachteiligten Kleinbauern im armen Hochland zugute käme.

Doch die Opposition hat der Verfassungsversammlung immer neue Knüppel in den Weg gelegt. Sie startete zum Beispiel eine Kampagne, welche Stadt künftig Hauptstadt Boliviens sein sollte. Eine sinnlose Auseinandersetzung, die allerdings die Kräfte der Versammlung lähmte. An manchen Tagen konnte der Nationalkonvent aufgrund der Blockaden der Regierungsgegner nicht einmal ordentlich zusammenkommen. Eigentlich können wir gar nicht von »oposición«, also Opposition, reden, es ist vielmehr eine »obstaculización«, eine Behinderung.

Dennoch war es am 15. Dezember dann endlich soweit: Vertreter der Verfassungsversammlung überreichten Präsident Evo Morales den Text der neuen »Politischen Konstitution des Staates«. Morales strich heraus, daß die neue Verfassung vor allem die Rechte der indigenen Bevölkerungsmehrheit in Bolivien stärkt. Worin bestehen die Forschritte gegenüber der bestehenden Verfassung?

Erst 1993 wurde durch eine Reform der damaligen Verfassung die Existenz der indigenen Bevölkerung in Bolivien überhaupt anerkannt. Doch jetzt sind aus der Verfassung auch spezielle Rechte ableitbar, und die Indigenen bekommen Instrumente, um diese Rechte auch wahrzunehmen: das Recht auf eine eigenständige Rechtsprechung in ihren Gebieten, auf politische Autonomie und Selbstverwaltung, auf Unterricht in ihrer eigenen Sprache. Ein weiterer wichtiger Unterschied der neuen Verfassung gegenüber der vorherigen ist: Sie ist partizipativ angelegt – das bedeutet, es findet ein grundlegender Wechsel des Staatsmodells statt: weg von der repräsentativen hin zur partizipativen Demokratie. Die Bevölkerung soll künftig stärker an den Entscheidungen beteiligt werden: mittels Referenden, mit denen Politiker und andere Amts- und Mandatsträger von der Bevölkerung ihres Amtes enthoben werden können. Mit der Möglichkeit zu größerer politischer Teilhabe kommen wir Forderungen nach, die die Bevölkerung bereits seit Jahren vorgebracht hat.

Die Verfassung ist umstritten: Die größte Oppositionspartei, Podemos, stimmte in der letzten Sitzung nicht mit über den Verfassungsentwurf ab. Die Präfekten (Gouverneure) der reichen Departamentos in Ostbolivien kündigten an, den Text nicht anerkennen zu wollen, und ließen ihrerseits Statute abfassen, die den von ihnen regierten Landesteilen Autonomie einräumen. Wie will die Regierung die Verfassung retten und eine Spaltung des Landes verhindern?

Die Regierung hat immer auf den Dialog gesetzt. Die Verfassungsversammlung war der Ort, wo man über alles hätte reden können. Die Opposition hat dieses Forum nicht genutzt. Dennoch hat Morales jetzt die Präfekten erneut zu Gesprächen eingeladen. Wir wollen die Probleme friedlich lösen. Aber es geht nicht an, daß Autonomiestatus in den Departamentos verabschiedet werden, die jeglicher legalen Grundlage entbehren. Sie sind weder mit der aktuellen noch mit der künftigen Verfassung konform. Die Präfekten haben im Alleingang gehandelt, statt die Möglichkeiten der neuen Verfassung zu nutzen. Auch die sieht Autonomien vor. Allerdings nicht nur für die Departamentos, sondern auch für Regionen und für Gebiete indigener Gemeinschaften. Doch diese Autonomien müssen vom Souverän erst bestätigt werden. Und der Souverän ist immer noch das bolivianische Volk! Wenn das Volk also die Verfassung in einem Referendum im September diesen Jahres annimmt, dann ist auch der Weg frei für Autonomien. Das ist die legale Vorgehensweise – nicht die Einberufung von durch niemanden legitimierten angeblichen Bürgerversammlungen, wie es die Präfekten getan haben. Jede Gesellschaft hat ihre Normen, aufgrund derer bestimmte Prozesse, in diesem Fall eine Verfassungsänderung, ablaufen. Es geht nicht, sich aufgrund von Partikularinteressen außerhalb dieser Normen zu stellen.

Ein Teil der in der neuen Verfassung verankerten Reformen zielt auf eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierungen ab. Bereits am 1. Mai 2006 hatte Morales die Verstaatlichung der Treibstoffindustrie angeordnet– jetzt sollen weitere Schlüsselindustrien – wie der Bergbau – folgen. Ein Kurs, der besonders beim Nachbarn Brasilien auf Widerspruch stieß. Dessen staatlicher Mineralölkonzern Petrobras stellte sogar seine Investitionen ein.

Die »Nationalisierung« – wie wir sie nennen – der Treibstoffreserven, war keine Idee der Regierung. Es war ein Auftrag des Volkes, und die MAS (»Bewegung zum Sozialismus«) wurde deshalb Ende 2005 gewählt. Evo Morales hat mit der Nationalisierung ein Wahlversprechen erfüllt. Der Prozeß hat zu Spannungen mit den Investoren geführt. Doch alle multinationalen Unternehmen haben inzwischen neue Verträge ausgehandelt und sind im Land verblieben. Die Nationalisierung ist nicht gegen die Unternehmen gerichtet. Der Prozeß erlaubt ihnen sogar weiter, Gewinne zu machen. Und außerdem gewährt er ihnen erstmals Rechtssicherheit. Das ist neu. Unter den vorherigen Regierungen waren die Förderverträge geheim. Sie wurden nicht – wir es die Verfassung vorschreibt – vom Parlament bestätigt. Das haben wir geändert. Die neuen Verträge sind transparent, und der bolivianische Kongreß hat ihnen zugestimmt.

Zuerst waren Petrobras und andere Unternehmen mit den neuen Bedingungen nicht einverstanden, die unter anderem höhere Abgaben beinhalten. Doch wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe. Die Investitionen, die es bislang in Bolivien gab, haben uns arm gemacht. Sie haben dafür gesorgt, daß der Reichtum aus dem Land abfloß, statt daß die Gewinne aus dem Rohstoffgeschäft für die Bevölkerung verwendet wurden. Wir wollen keine Investitionen mehr, die uns arm machen. Wir wollen Investitionen, die uns helfen, die Armut zu überwinden. Auch Petrobras sieht das nun ein: Beim letzten Gipfel zwischen beiden Ländern, dem Besuch des brasilianischen Präsenten Inácio »Lula« da Silva in La Paz am 17. Dezember, war auch der Präsident von Petrobras dabei. Er hat seine Meinung geändert und kündigte bedeutende Neuinvestitionen an: Zwischen 750 Millionen und einer Milliarde US-Dollar will der Konzern ausgeben, um die Gasförderung in Bolivien zu steigern. Mit diesen Investitionen – auch das haben wir vereinbart – muß zuallererst die Versorgung unseres Binnenmarkts garantiert werden – immer noch sind viele Bolivianer nicht ans Gasnetz angeschlossen. Dann müssen wir die bestehenden Lieferverträge mit Argentinien und Brasilien erfüllen. Und als weiteres Ziel wollen wir in die Etappe der industriellen Weiterverarbeitung dieser Rohstoffe eintreten. Wir werden in Bolivien eine petrochemische Industrie errichten.

Die Industrialisierung wäre auch ein Weg, aus der Abhängigkeit von ausländischen Hilfszahlungen und den schwankenden Rohstoffpreisen herauszukommen. Doch immer noch befinden sich die meisten Projekte, wie die Erschließung neuer Gasfelder und die Weiterverarbeitung der Rohstoffe, im Planungsstadium ...

Es gibt viele Firmen aus aller Welt, die gespannt auf Bolivien schauen: Wir sind eines der rohstoffreichsten Länder. Und wir benötigen Investitionen und Technologie, um uns zu entwickeln. Doch zuerst brauchen wir neue Spielregeln – wie sie in der neuen Verfassung festgeschrieben sind. Die alten Verträge waren nicht darauf angelegt, daß wir die Rohstoffe im Land selbst verarbeiten können, sondern es ging nur darum, sie möglichst schnell und billig auszuführen. Wir brauchen Garantien, die verhindern, daß es wieder zu Korruption kommt wie in den vergangenen Jahren: Wir brauchen Investitionen mit Transparenz.

In den kommenden fünf Jahren wird zum Beispiel der indische Konzern Jindal Steel umgerechnet 1,5 Milliarden Euro in die Ausbeutung des Eisenerzlagers El Mutún an der bolivianisch-brasilianischen Grenze stecken. Doch das Erz wird dort nicht nur abgebaut, Jindal Steel wird über eine Tochterfirma auch selbst Stahl in Bolivien herstellen. So werden insgesamt 30000 neue Jobs entstehen.

Mittlerweile haben wir noch mit einigen anderen Unternehmen Verträge ausgearbeitet, die diese Bedingungen erfüllen. Einige davon liegen zur Zeit im Senat. Leider haben wir in der zweiten Kammer des Parlaments nicht die Mehrheit, so daß die Opposition die Verabschiedung der Verträge blockieren kann. Dadurch verzögert sich der Prozeß leider. Es geht nicht von heute auf morgen. Aber wir sind ja erst seit zwei Jahren an der Macht ...

Auch außenpolitisch hat die Regierung Morales einen neuen Kurs eingeschlagen. Traditionell suchten bolivianische Präsidenten oft die Nähe der USA. Doch heutzutage sucht Bolivien Bündnispartner vor allem in Lateinamerika und ebenso in Europa.

Wir hatten keine normalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den USA. Wir standen in einer Beziehung der Abhängigkeit zu ihnen. Doch jetzt wollen wir ein gleichberechtigtes Verhältnis – wie es sich für souveräne Staaten gehört. Die USA haben nach anfänglichen Spannungen verstanden, daß sich die bolivianische Außenpolitik verändert hat. Wir sind zwar weiter an guten Beziehungen interessiert – sie müssen nur jetzt unter anderem Vorzeichen gestaltet werden.

Bolivien ist Mitglied mehrerer Bündnisse: der Andengemeinschaft (CAN), der Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) – zur Zeit wird dafür eine Konstitution erarbeitet –, außerdem wollen wir dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) beitreten. Doch eines der wichtigsten und fortschrittlichsten Bündnisse ist für uns die »Bolivarianische Alternative für die Völker unseres Amerika« (ALBA). Zusammen mit Venezuela, Kuba und Nicaragua wollen wir nicht nur Wirtschaftsprojekte verwirklichen – sondern uns auch politisch integrieren. Es gibt ideologische Übereinstimmungen. Die ALBA fördert ein harmonisches Leben unter den Menschen und zwischen den verschiedenen Gemeinschaften unter der besonderen Rücksicht auf die Umwelt.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat mehrfach angekündigt, sein Land würde den Wandel in Bolivien gegen Angriffe von außen und von innen verteidigen. Wie weit geht die Zusammenarbeit im Militärbereich? Kontingente mit venezolanischen Soldaten sollen in Bolivien operieren ...

Die venezolanischen Soldaten in Boli­vien sind allein beim Katastrophenschutz im Einsatz. In Bolivien hat sich das Bild der Militärs geändert. Früher hatten die Menschen Angst vor ihnen – sie waren die Helfershelfer der Diktatur und putschten mehrmals gegen gewählte Regierungen. Doch ihre Rolle hat sich, wie gesagt, verändert. Sie helfen bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdrutschen. Darin unterstützt Venezuela Bolivien. Es gibt ein Programm, an dem Soldaten beider Länder teilnehmen, um Erfahrungen auszutauschen. Gegenwärtig laufen die Vorbereitungen, weil das Klimaphänomen »La niña« erwartet wird. Aber Bolivien bekommt auch Rat und Unterstützung von Streitkräften anderer Länder wie Argentinien und Brasilien.

Derzeit verhandelt Bolivien über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Andengemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft. Was erwartet Bolivien von einem Vertrag mit der EU?

Es kommt uns in den Verhandlungen mit der EU darauf an, daß der Assoziierungsvertrag die bestehenden Asymmetrien zwischen den Ländern anerkennt und ihnen Rechnung trägt – damit wir sie überwinden. Die deutsche Regierung könnte uns helfen, indem sie uns in diesem Anliegen unterstützt. Wir haben durchgesetzt, daß die Länder der Andengemeinschaft in den Verhandlungen nicht als ein einheitlicher Block behandelt werden, sondern daß ihre Besonderheiten gesehen werden. Eine spezielle Arbeitsgruppe beschäftigt sich nun mit diesen Asymmetrien. Denn wir haben weder dieselbe Wirtschaftsleistung und dieselbe Entwicklungsgeschichte, noch verfolgen wir alle dasselbe ökonomische Modell.

Mit dem Nachbarn Chile bestehen seit 1978 keine offiziellen diplomatischen Beziehungen. Bolivien beansprucht den im Salpeterkrieg verlorenen Zugang zum Meer. In der neuen Verfassung gibt es einen entsprechend Passus, der diesen Anspruch erneut bekräftigt. Gibt es bald einen bolivianischen Pazifikhafen?

Es gab in den vergangenen zwei Jahren eine Reihe von Besuchen. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet war zuletzt Mitte Dezember in La Paz. Durch diese Treffen haben sich unsere beiden Länder angenähert. Bei Bachelets Besuch gab es eine Agenda von 13 Punkten, die kein Thema – auch den Meerzugang nicht – ausschloß. Beide Regierungen haben ihr Interesse bekundet, eine friedliche Lösung des historischen Anspruchs Boliviens zu erreichen. Für Bolivien ist der Meerzugang eine Frage der nationalen Souveränität. Wir sind zum ersten Mal in der Geschichte wieder soweit, daß wir direkt, bilateral verhandeln. Es gibt noch viel zu tun. Wir arbeiten gerade daran, das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Wir fördern den Austausch und die Begegnung zwischen Repräsentanten beider Streitrkräfte, zwischen Abgeordneten, Journalisten, Künstlern und Studenten. Wir intensivieren die Wirtschaftsbeziehungen. Wir reden über die Wiedereröffnung einer Eisenbahnlinie und einen Korridor für Waren, der von Brasilien über Bolivien nach Chile führen soll.

Interview: Timo Berger

* Aus: junge Welt, 12. Januar 2008


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