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Bolivien vor Zerreißprobe

Reiche Departements erklären "De-facto-Unabhängigkeit". Feiern für neue Verfassung am Wochenende in La Paz

Von Timo Berger *

Bolivien bekommt eine neue Verfassung. Was für die einen Grund zur Freude ist, bietet für die anderen Ansporn, die Spaltung des südamerikanischen Landes weiter voranzutreiben. Während am Samstag in La Paz Zehntausende Menschen die neue Verfassung feierten, verlas die rechte Opposition im Osten des Landes eilig verfaßte »Autonomiestatute«. Die Lage blieb das ganze Wochenende über angespannt, zu den befürchteten Ausschreitungen kam es allerdings nicht.

Am Samstag morgen demonstrierten Tausende Vertreter von über 80 sozialen Organisationen und der 36 indigenen Völker des Landes mit einem »Marsch für die Demokratie« ihre Entschlossenheit, die neue Verfassung zu verteidigen. Danach übergab die Präsidentin der verfassunggebenden Versammlung, Silvia Lazarte, Staatschef Evo Morales den vor einer Woche verabschiedeten Entwurf einer neuen Konstitition. Morales bedankte sich bei den Mitgliedern des Konvents: »Sie sind unsere Helden der tiefen und demokratischen Transformationen.« Die neue Verfassung sei »das beste Weihnachtsgeschenk für alle Bolivianer und Bolivianerinnen«.

Mitte Mitte 2008 wird die neue Konstitution der Bevölkerung in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt werden -- zuvor müssen die Wähler noch über eine Detailfrage entscheiden, über die in der verfassunggebenden Versammlung keine Einigkeit erzielt werden konnte: ab welcher Fläche Landbesitz künftig als Großgrundbesitz gilt (5000 oder 10000 Hektar). Dessen Nutzung soll künftig zudem an soziale Kriterien gebunden sein.

Bis zuletzt hatte die rechte Opposition versucht, die neue Verfassung mit Verfahrenstricks und Gewalt zu verhindern. Bei der vorletzten Sitzung im November in Sucre starben bei Auseinandersetzungen von Oppositionsanhängern und Sicherheitskräften drei Menschen. Nachdem der Konvent den Text vor einer Woche endlich verabschieden konnte, kündigten die Gouverneure der Departements Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando an, die Verfassung nicht anzuerkennen. Statt dessen leiteten sie die De-facto-Autonomie ihrer Departamentos ein. Innerhalb einer Woche arbeiteten nicht gewählte Gremien aus Vertretern sogenannter Bürgerkomitees Statute aus, die die künftige Selbstverwaltung der Departements regeln und Referenden organisieren sollen. Evo Morales bezeichnete dieses Vorgehen zu Recht als illegal: »Wir werden keine Teilung Boliviens aufgrund der Autonomien dulden«, bekräftigte er am Samstag.

Nach Ansicht der Regierung können die Departements Autonomierechte nur auf Grundlage der neuen Verfassung eingeräumt werden. Die Gouverneure berufen sich indes auf ein Referendum im vergangenen Jahr, bei dem die Wähler in den vier Departements für die Autonomie gestimmt hatten. Die Mehrheit der Bolivianer sprach sich damals allerdings auch gegen die Selbstverwaltung einzelner Landesteile aus. Vor allem Santa Cruz beansprucht für sich das Recht, über die Bodenschätze selbst zu verfügen und eine eigene Polizei aufstellen zu dürfen.

Hintergrund des erbitterten Konflikts zwischen Regierung und der rechten regionalen Opposition ist die Umverteilung nationaler Ressourcen, wie sie die neue Verfassung vorsieht. Bislang profitieren hauptsächlich die fördernden Departements von den Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft. Nun sollen auch die anderen einen Anteil bekommen. Der arme Westen Boliviens soll -- auch durch das Engagement neuer Staatsfirmen -- entwickelt werden.

Die jetzt ausgearbeitete Verfassung ist in vielen Punkten fortschrittlich. Zum ersten Mal wird der multiethnische Charakter Boliviens anerkannt -- 36 indigene Gruppen leben auf seinem Staatsgebiet. Den Indigenen werden nicht nur besondere Rechte, wie die Beteiligung an der Ausbeutung von Rohstoffen und die Selbstverwaltung in ihren Territorien zugesichert -- ethische Prinzipien werden explizit zur Grundlage des Staates gemacht. Ein Novum in der Geschichte des Landes, in dem die Nachfahren der Ureinwohner bis Anfang der 1950er Jahre nicht einmal Bürgerrechte besaßen. Daß Indigene auch heute noch vielfach Diskriminierung erfahren, beklagte Anfang Dezember der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechtsfragen Rodolfo Stavenhagen: Der aktuelle politische Konflikt habe zu »Ausbrüchen von Rassismus« geführt, »die mehr einer kolonialen Gesellschaft als einem modernen demokratischen Staat entsprechen«, so sein alarmierendes Fazit.

* Aus: junge Welt, 17. Dezember 2007


"Die Opposition will keine Veränderung

Die reformierte Verfassung Boliviens bringt zahlreiche Neuerungen. Ein Gespräch mit Walter Magne Véliz

Die Opposition in Ostbolivien hat am Samstag sogenannte Autonomiestatute beschlossen. Wen vertreten die »Bürgerkomitees« eigentlich?

Sie vertreten vor allem Einzelinteressen. In Santa Cruz besitzen bis zum heutigen Tag 35 Familien fast den gesamten Grund und Boden. Die Regierung hat gefordert, daß die Verwaltung und Vergabe von Land endlich transparent gemacht wird. Doch statt dessen haben sich die »Bürgerkomitees« darangemacht, die Autonomie ihres Departements voranzutreiben. In den Statuten werden abstruse Forderungen aufgestellt. So heißt es etwa, daß Bolivianer, die aus anderen Landesteilen nach Santa Cruz reisen, den Paß vorzeigen müßten. Doch mittlerweile stammen 60 Prozent der Bevölkerung in Santa Cruz aus dem Andenhochland. Die Bürgerkomitees sprechen schon deswegen nicht für die Mehrheit.

Dennoch hat die Opposition ein Gesprächsangebot der Regierung ausgeschlagen und sucht allem Anschein nach die Konfrontation.

In Santa Cruz sind paramilitärische Jugendverbände aktiv, die von vielen Beobachtern als »faschistisch« bezeichnet werden. Die »Bürgerkomitees« setzen sie als Schlägertrupps gegen Vertreter sozialer Bewegungen ein. Ihr Plan ist es, die Macht mit Gewalt und Einschüchterung zu erlangen. Sie wollen einen Staatsstreich. Beraten werden sie dabei, wie Evo Morales kürzlich öffentlich gemacht hat, von ausländischen Kräften.

Die Opposition kritisiert die Verfassungsänderung. Welche sind für Sie die wichtigsten Neuerungen?

Ein wichtiger Punkt ist, daß die neue Verfassung ethischen Prinzipien folgt, die aus der Kultur der Indigenas stammt. Dort heißt es: »Lüge nicht, raube nicht und sei nicht faul!«. Das sind die drei wichtigsten Gebote. Die Opposition akzeptiert nicht, daß die Indigenen über eine Jahrhunderte alte Kultur verfügen, die als Grundlage für einen Staat dienen kann. Die Ausbeutung der Rohstoffe soll nachhaltig erfolgen und die Gewinne daraus gerecht zwischen den einzelnen Departements verteilt werden. Bislang profitieren vor allem die Förderregionen.

Die Opposition warnt vor der Einführung des Sozialismus ...

Es wird weiterhin Privateigentum geben, aber es wird ergänzt durch andere Eigentumsformen. Die privatwirtschaftliche Initiative darf aber nicht mehr wie bisher mit den Bodenschätzen des Landes spekulieren und den Hauptteil des Gewinns einstreichen. Wir orientieren uns an einem Land wie Norwegen. Dort fallen Abgaben von bis zu 80 Prozent an -- diesem Beispiel folgen wir nun auch in Bolivien.

Eine der Forderungen der sozialen Bewegungen war, die Indigenas endlich als vollwertige Bürger anzuerkennen. Wie sieht deren neue Rolle aus?

Sie bekommen eine direkte Vertretung im Parlament und in anderen Gremien wie der Obersten Wahlbehörde und der Kommission, die die obersten Richter vorschlägt. Auch wird durch die neue Verfassung Bildung für alle obligatorisch. Eltern müssen ihre Kinder bis zum Abitur auf die Schule schicken. In der nächsten Generation soll es dadurch keinen Analphabetismus mehr geben.

Die Opposition wirft der Regierung vor, daß es während des Verfassungskonvents zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei.

Die Opposition hat von Anfang an die Strategie verfolgt, das Gelingen des Konvents zu verhindern: Sie hat Themen aufgeworfen, die überhaupt nichts mit den Forderungen der Bevölkerung zu tun hatten. Etwa die Frage, ob Sucre Hauptstadt sein soll. Es gibt eine Reihe viel dringender Probleme, wie etwa die Unterernährung, der Bildungsnotstand -- Probleme, die die Bevölkerung unmittelbar betreffen. Die Opposition hat sehr genau die Gesetze studiert und immer wieder Möglichkeiten gefunden, um den Konvent zu blockieren. Sie will keine Veränderung.

Der Verfassungstext wurde deswegen am Ende ohne die Opposition beschlossen?

Das stimmt nicht ganz. Die Partei Unidad Nacional hat teilgenommen und noch viele Artikel modifiziert. Podemos erschien auch, aber statt im Plenum mitzudiskutieren, wollten sie die Leitung des Konvents besetzen. Als ihnen das nicht gelang, zogen sie ihre Vertreter zurück.

* Walter Magne Véliz ist Botschafter der Republik Bolivien in Deutschland

Interview: Timo Berger

Aus: junge Welt, 17. Dezember 2007

Die neue Verfassung (Auszüge)

Artikel 1: Bolivien konstituiert sich als ein freier, dezentralisierter, autonomer, unabhängiger, souveräner, demokratischer und interkultureller sowie multiethnischer kommunitärer, sozialer Einheits- und Rechtsstaat. Dieser gründet sich auf (...) dem politischen, wirtschaftlichen, juristischen, kulturellen und sprachlichen Pluralismus im Rahmen der Integration des Landes.

Artikel 2: Aufgrund der vorkolonialen Existenz der ursprünglichen indigenen Völker und Nationen ist ihre Selbstbestimmung innerhalb des Staates garantiert, ihr Recht auf Autonomie und Selbstregierung, ihre Kultur und die Anerkennung ihrer Institutionen sowie die Konsolidierung ihrer territorialen Einheiten (...)

Artikel 5: Offizielle Staatssprachen sind Spanisch und alle Sprachen der indigenen Völker (...) Aymara, Araona, Baure, Bésiro, Canichana, Cavineño, Cayubaba, Chácobo, Chimán, Ese Ejja, Guaraní, Guarasu'we, Guarayu, Itonama, Ieco, Machajuyai, Machineri, Mojeño-Trinitario, Mojeño-Ignaciano, Moré, Mosetén, Movima, Pacawara, Quechua, Maropa, Sirionó, Tacana, Tapieté, Toromona, Puquina, Uru-Chipaya, Weenhayek, Yaminawa, Yuki, Yuracaré und Zamuco.

Artikel 8: Der Staat verfolgt die ethischen Prinzipien der pluralen Gesellschaft: ama qhilla, ama llulla, ama suwa (Sei nicht faul, sei kein Lügner, sei kein Dieb). (...)

Artikel 10: Bolivien ist ein pazifistischer Staat (...). Die Einrichtung ausländischer Militärbasen auf bolivianischem Staatsgebiet ist verboten.

Artikel 14: (...) Der Staat verbietet und bestraft jede Form von Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Herkunft, Kultur, Nationalität, Staatsangehörigkeit, Sprache, Glaube, Ideologie, Parteizugehörigkeit, Philosophie, Ehestand, wirtschaftlichem oder sozialem Status, Bildung, Behinderung, Schwangerschaft oder anderen Umständen, die das Ziel haben, die Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Gleichheit von Rechten und Freiheiten jedweder Person aufzuheben oder geringzuschätzen.

* Übersetzung: Timo Berger




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