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Bolivien: Von der Diktatur zur Demokratie?

Präsident Banzer versucht es mit einer Verfassungsreform

Den nachfolgenden Text haben wir der Neuen Zürcher Zeitung entnommen. Er erschien am 27. Februar 2001 unter dem Titel "Boliviens Präsident ringt um Erneuerung. Verfassungsreform mit vermehrter Partizipation". Wir dokumentieren den Beitrag in gekürzter Form:

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Seit im September und Oktober vergangenen Jahres im Chapare, der wichtigsten Coca-Anbauregion Boliviens, und in der Andenstadt Cochabamba schwere Zusammenstösse zwischen Cocaleros und den Sicherheitskräften eine Bilanz von zehn Toten, 128 Verletzten und wirtschaftlichen Kosten von gegen 200 Millionen Dollar hinterliessen, ist in Bolivien trügerische Ruhe eingekehrt. Die explosiven sozialen Konflikte, die neben den Cocaleros auch andere Interessengruppen mobilisiert hatten, konnten damals von der Regierung Banzer durch Verhandlungen mit den Gewerkschaften und Konzessionen gegenüber Interessengruppen gekittet, aber kaum wirklich gelöst werden.

Ex-Diktator als Wahrer der Demokratie

Zwar mit blutigen Konflikten erkauft, kann Banzer mit seinem kompromisslosen Vorgehen zur Eliminierung der Coca-Pflanzungen mit einer Erfolgsbilanz aufwarten: Im Chapare konnte laut offiziellen Angaben die Coca-Anbaufläche von 37.000 Hektaren vor einem Jahrzehnt auf gegenwärtig 1.800 Hektaren reduziert werden. Präsident Banzer verfolgt das ambitiöse Ziel, bis zum Ende seiner Amtszeit im Juni 2002 sämtliche illegalen Coca-Pflanzungen auszurotten. Doch dieses lobenswerte Vorhaben hat seine Kehrseite. Die soziale Krise - und diese trifft bei weitem nicht nur jene 60.000 Familien, die bisher von ihren Coca-Pflanzungen gelebt hatten - hängt weiter als Damoklesschwert über dem Andenstaat mit seinen knapp acht Millionen Einwohnern. ...

Hugo Banzer, dem nur noch wenig mehr als ein Jahr seiner fünfjährigen Amtszeit verbleibt, sieht sich gezwungen, neue Initiativen zu ergreifen, wenn er den chronisch gewordenen Zyklus von Volksaufständen, blutiger Niederschlagung, Konzessionen und temporärem Verhandlungsfrieden durchbrechen will. Aber der frühere Militärherrscher der Jahre 1971 bis 1978 muss sich allmählich auch fragen, was sein für Lateinamerika beispielloses Comeback als demokratischgewählter Präsident Mitte 1997 dem Land eigentlich an greifbaren Fortschritten gebracht haben könnte - ausser natürlich der drastischen Eindämmung der Coca-Anbaufläche. Um nicht auch noch den Rest seiner Regierungszeit ruhmlos und unspektakulär als «Lame Duck» verbringen zu müssen, steht Banzer vor der Notwendigkeit, sich dringend etwas einfallen zu lassen. Ausserdem scheint das Überleben von Banzers Mega-Regierungskoalition, bestehend aus der Acción Democrática Nacionalista (ADN), dem Movimiento de la Izquierda Revolucionaria (MIR), der Unidad Cívica Solidaridad (UCS) sowie 13 Kleinparteien, keineswegs bis zu den nächsten Wahlen gesichert. ... «Unzufriedene Gruppierungen fühlen sich ausgeschlossen, sie konspirieren gegen die Nation und ermutigen jene Kräfte, die mit dem Autoritarismus als Alternative zum demokratischen System liebäugeln.» Mit dieser eindringlichen Warnung vor einem Rückfall in den Autoritarismus hatte sich Mitte Februar der vom Saulus eines Autokraten in Uniform zum Paulus eines zivilen Demokraten gewandelte Banzer an den Kongress gewandt.

«Bürgerrevolution»

Präsident Banzer schlägt dem Parlament eine Verfassungsreform vor. In ihrem Zentrum soll eine «revolución ciudadana», eine «Bürgerrevolution», stehen - eine ungewohnte Terminologie für einen einstigen Militärdiktator ... Banzer will nicht nur die herkömmlichen Parteien modernisieren und reformieren, sondern auch in der Verfassung für jegliche Körperschaft, die irgendwelche Interessen vertritt, das Recht verankern, im politischen System gleichberechtigt mit den Parteien zu partizipieren. Es tönt wie ein Widerhall aus dem fernen Caracas, wenn Banzer von einem «neuensozialen Pakt» spricht und damit in verhängnisvolle Nähe der berüchtigten Leerformeln Chávez'scher Rhetorik gerät. Banzer zählt eine Reihe von Änderungen auf, die er in einer Verfassungsreform verwirklicht sehen möchte. Sie reichen von der Kompetenz des Präsidenten, künftig einen Ministerpräsidenten zu ernennen, über ein erweitertes Arbeitspensum für den Kongress, vorerstnicht weiter spezifizierte Wahl- und Justizreformen, die Abschaffung der Todesstrafe bis hin zur Inkorporierung völkerrechtlicher Verträge via eine spezifische Verfassungsnorm. All dies ... zielt ... ziemlich grossräumig an den eigentlichen Problemen des Landes vorbei. Von «Revolution» jedenfalls keine Spur.

Schatten der kommenden Wahlen

Währenddessen werfen die allgemeinen Wahlen des kommenden Jahres, in denen Hugo Banzer unwiderruflich nicht mehr kandidieren darf, ihre Schatten voraus. Nicht nur begeben sich die Kandidaten bereits in die Startlöcher für den Wahlkampf, schon erschallen auch die ersten Alarmrufe. Denn die 41 Delegierten für die künftigen Wahlgerichte, die kürzlich vom Parlament - sprich von den Mitgliedern der breiten Regierungskoalition - ernannt wurden, werden schon jetzt der Parteilichkeit beschuldigt. Diese Wahlgerichte, so formuliert düster ein Politologe in La Paz, hätten «mit einer tiefen Wunde» das Licht der Welt erblickt, nämlich mit einem gravierenden Defizit an Glaubwürdigkeit. Das böse Wort «Wahlbetrug» macht schon jetzt, mehr als ein Jahr vor dem Urnengang, gleichsam prophylaktisch die Runde in der bolivianischen Hauptstadt. Der in einiger Hinsicht als Präsident erfolgreiche Vorgänger Banzers, Sánchez de Lozada, heute Vorsitzender der Oppositionspartei Movimiento Nacionalista Revolucionaria (MNR), gelobt schon jetzt, die angeblich korrupten Umtriebe der Regierung Banzer nach deren Abtritt aufzudecken, nach dem Vorbild der aktuellen Untersuchungen gegen das Zweigespann Montesinos-Fujimori im Nachbarland Peru. All dies ist kaum dazu geeignet, das erschütterte Vertrauen der desillusionierten Bolivianer in ihre Demokratie wiederherzustellen - mit oder ohne als «Bürgerrevolution» angepriesene Verfassungsreform.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 2001

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