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Boliviens Evo Morales gewinnt die Herzen und Köpfe in den USA

von Deborah James und Medea Benjamin *

Während der iranische Präsident Ahmadinedschad letzte Woche bei dem Treffen der Vereinten Nationen in New York die Schlagzeilen gestohlen hat, hat Boliviens Präsident Evo Morales – ein bescheidener Kokabauer, ehemaliger Lamahirte und Gewerkschaftsorganisator – die Herzen der Amerikaner gestohlen. Bei öffentlichen Veranstaltung und Auftritten in den Medien ist der erste indigene Präsident Boliviens auf die Amerikaner zugegangen, um einen direkten Dialog über Themen wie Demokratie, umweltpolitische Nachhaltigkeit und soziale und ökonomische Gerechtigkeit zu führen.

Morales tauchte bei einer öffentlichen Veranstaltung auf, bei der Repräsentanten von New Yorks Latinos, Arbeitern und anderen Gemeinschaften anwesend waren und sprach – ohne Notizen – 90 Minuten lang darüber, wie er an die Macht gekommen war und über die Anstrengungen seiner Regierung, das ärmste Land Südamerikas zu dekolonisieren. Zuerst, sagte er, wollten die Gewerkschaften die Jauchegrube der Politik nicht betreten. Aber sie begriffen, dass sie sich mit andere sozialen Mehrheiten verbinden, politische Repräsentation demokratisch gewinnen und dann die Regierung verändern mussten, wenn sie wollten, dass die Regierung zum Besten der armen indigenen Mehrheit handelt.

Nun ins Amt gewählt, verfügen sie über ein eindeutiges Mandat, das auf den dringenden Bedürfnissen der Mehrheit basiert: eine verfassungsgebende Versammlung zu organisieren, um die Verfassung neu zu schreiben (was eine Kontroverse mit den traditionellen Eliten ausgelöst hat, aber durchaus vorangeht), ein umfassendes Konzept für eine Bodenreform zu entwerfen, den Anbau von Koka für den Verkauf im Inland zu entkriminalisieren (das ist im Gang) und die Kontrolle über die Öl- und Gasindustrie zurückzugewinnen (Mission erfüllt).

Während sich die anderen Staatsoberhäupter mit Bankiers und Milliardären trafen, bat Morales seine Mitarbeiter, eine Konferenz mit Anführern der Basis einzuplanen, sodass er etwas über unsere Anstrengungen und darüber, wie wir zusammenarbeiten könnten, erfahren könne. Das Treffen schloss hochrangige Arbeiterführer, Organisatoren von Immigrantenverbänden, indigene Anführer, Friedens- und Umweltaktivisten mit ein.
„Ich habe während vieler Treffen der UN in New York gelebt und ich habe noch nie gesehen, dass ein Präsident so auf die Arbeitergemeinde zugeht wie Evo es heute getan hat“, bemerkte Ed Ott, der Geschäftführer des New York City Central Labor Council.

Der Präsident hörte geduldig zu, während US Organisatoren über Bemühungen sprachen, den Krieg im Irak zu beenden, über Ungerechtigkeiten im Gefängnissystem, über Versuche der Organisation der von für niedrige Löhne arbeitenden Immigranten, über Bemühungen für die Rechte der indigenen Bevölkerung und über die Schwierigkeiten, die Bush-Regierung dazu zu bringen, das Problem des Klimawandels ernsthaft anzugehen. „Dass ein Bauer Präsident geworden ist, das ist ein Traum, der wahr geworden ist!”, kommentierte Niel Ritchie, Präsident der League of Rural Voters. „Wenn man Präsident Morales zuhört, ist es so einfach zu verstehen, wie unser gegenwärtiges Handelskonzept Bauern in den USA wie auch in Bolivien geschadet hat.”

Aber seine am weitesten verbreitete Kontaktaufnahme war bei der Daily Show mit Jon Steward, der auch von dem Bauern, der Präsident wurde, fasziniert zu sein schien. Mit Hilfe eines Übersetzers erklärte Morales Millionen von Amerikanern, wie die Politik seiner Regierung den Armen des Landes durch die Verstaatlichung von Öl und gas hunderte Millionen Dollar gebracht hat, die sonst ausländischen Konzernen zugeflossen wären. Gewinne von Kohlenwasserstoffen, hauptsächlich Erdgas, sind von 440 Millionen Dollar in 2004 auf über 1,5 Milliarden Dollar in 2006 gestiegen – eine bedeutende Summe für Boliviens Wirtschaft, wie auch der Anstieg von 5 % des BIP (Bruttoinlandsprodukt) auf über 13 % des BIP. Dieses Jahr werden die Gewinne wahrscheinlich 2 Milliarden Dollar übersteigen, sagte er. Mit einem Augenzwinkern als er die Politik der Bush-Regierung gemäßigt kritisierte, sagte er, dass Streitkräfte in diesem neuen Jahrhundert Leben durch humanitäre Hilfe retten sollten, nicht Leben nehmen.

Während Morales` Auftritten in den Medien (darunter ein längerer Abschnitt in Democracy Now!), formalen Reden bei den Vereinten Nationen und öffentlichen Konferenzen konzentrierte er sich auf drei hauptsächliche Punkte. Der Hervorstechendste war die Dringlichkeit, umfassende Lösungen für den Klimawandel zu finden und gleichzeitig die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern. „Wir müssen in Bezug auf die Gründe für die globale Erwärmung ehrlich sein. Zu viel Konsum in den entwickelten Ländern. Zu viel Verschmutzung in den entwickelten Ländern.“ Gleichzeitig argumentierte er, dass die Armen immer noch mehr Zugang zu Energie brauchen: „Genau wie wir dafür gekämpft haben, Wasser zu einem Menschenrecht zu machen, brauchen wir eine internationale Kampagne, um Zugang zu Energie zu einem Menschenrecht zu machen.“

Diese Meinungen hallten mit Brent Blackwelderm Präsident der Friends of the Earth US nach, der an der Konferenz mit Morales teilnahm. „Wir müssen Lösungen finden, die den Kohlendioxidausstoß in den Ländern des globalen Nordens reduzieren, während wir für saubere Energie und im globalen Süden für eine Reduzierung der Armut kämpfen.“ Van Jones, der Gründer von Green for All, stimmte dem zu. „Wir kämpfen für soziale Gerechtigkeit und Klimalösungen in den USA und wir können uns mit unseren Verbündeten, wie Präsident Morales, die die gleiche globale Vision haben, zusammenschließen und von ihnen lernen.“

Morales betonte auch die Wichtigkeit der Anstrengungen für das Recht auf Leben, das sich in Bolivien auf den Kampf gegen von Konzernen praktizierte Globalisierung und für Zugang zu Wasser, Nahrung, Bildung und medizinischer Versorgung. Bevor Morales gewählt wurde, litt Bolivien extrem unter zwei Dekaden von Programmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, die die Privatisierung der Wasserversorgung und der Kohlenwasserstoffindustrie beinhalteten. Jetzt ist Bolivien viel von seinen Schulden erlassen worden und es ist dank der Entschuldungsbewegung und viel Hilfe von Venezuela nicht mehr an ein Abkommen mit dem IWF gebunden.

Obwohl Bolivien reich an natürlichen Ressourcen ist, hat die indigene Bevölkerungsmehrheit selten von deren Ausbeutung profitiert und die Ungleichheiten bleiben größtenteils bestehen und die Mehrheit bleibt arm. Die Bemühungen der bolivianischen Regierung, eine gerechtere Verteilung des natürlichen Ressourcenreichtums sicherzustellen, haben dazu geführt, dass sie von ausländischen multinationalen Konzernen wegen „in Zukunft erwarteten Profiten“ von ihren Investitionen verklagt wurde.

Nach internationalen Handels- und Investitionsabkommen werden diese Fälle nicht Boliviens nationalen Gerichten zugesprochen, wie es bei nationalen Konzernen der Fall ware, sondern dem World Bank's International Center for the Settlement of Investment Disputes, ICSID. (Das ähnelt den „Rechten“, die ausländischen Investoren gegeben werden, souveräne Regierungen auf der Grundlage von bilateralen und regionalen Handelsabkommen zu verklagen, den sogenannten "Chapter 11 investor-to-state provisions in the North American Free Trade Agreement.) ICSID verfügt nicht über die Transparenz, gegenseitige Kontrolle oder die Offenheit eines richtigen juristischen Systems, aber seine Urteile sind bindend.

Diesen März hat die bolivianische Regierung angekündigt, sich aus der ICSID zurückzuziehen. Obwohl den meisten Amerikaner [und Europäer] die Existenz des ICSID nicht bewusst ist, wird es nach einem bedeutenden Bericht des Institute for Policy Studies and Food and Water Watch regelmäßig von US- und europäischen Konzernen genutzt, um Versuchen von Entwicklungsländern, natürliche Ressourcen und die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Wasser wieder zu verstaatlichen, entgegenzuwirken. Während seiner Gespräche rief Morales die internationale Gemeinschaft dazu auf, die Bemühungen für „eine andauernde globale Kampagne gegen diese Art der Herrschaft von Investoren“ zu unterstützen.

Der dritte von Morales hervorgehobene Punkt bezieht sich auf die bilateralen Beziehungen mit den USA. Die US-Regierung unterhält zur Zeit durch die U.S. Agency for International Development (USAID) ein Office of Transition Initiatives (OTI) in Bolivien. (OTI Büros sind normalerweise darauf ausgerichtet, von Washington gewollte Regimewechsel zu unterstützen; das einzige andere in Lateinamerika befindet sich in Venezuela.) Die bolivianische Regierung hat die US-Regierung beschuldigt, Geld der USAID zu benutzen, um Opposition gegen die neue Regierung und ihre politische Partei, den MAS, aufzubauen – etwas, was die USA in der Vergangenheit getan hatten. „Ein deklassifiziertes Telegramm aus dem Jahr 2002 von der US-Botschaft in La Paz beschrieb ein von USAID gesponsortes “Projekt zur Reform des Parteiensystems“, um dazu „beizutragen, gemäßigte, pro-demokratische Parteien aufzubauen, die als Gegengewicht zu der radikalen mAS oder ihren Nachfolgern dienen können.“

Aber Evos Hauptargument bezog sich auf den ehemaligen Präsidenten, Gonzalo Sanchez de Lozada, der allgemein als Goni bekannt ist. Während der „Gaskriege“ von 2003 schossen Truppen auf Demonstranten, wobei 67 Menschen getötet und über 300 verletzt wurden. Einige Tage später trat Goni von seinem Amt als Präsident zurück und floh nach Washington DC, wo er jetzt wohnt. Der bolivianische Oberste Gerichtshof ersucht um seine Auslieferung und die zweier seiner ehemaligen Minister, laut Evo nicht aus Rache, sondern “damit sie sich in Bolivien für ihre Verbrechen vor Gericht verantworten müssen und zur Rechenschaft gezogen werden können.“

Während es angesichts ihres Mangels an Kooperation bei Venezuelas Forderung nach der Auslieferung des Terroristen Luis Posada Carriles unwahrscheinlich scheint, dass die Vereinigten Staaten der Auslieferung zustimmen würden, schafft die vor kurzem erfolgte Zustimmung der chilenischen Regierung, den ehemaligen peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori auszuliefern, damit er in Peru vor Gericht gestellt werden kann, einen Präzedenzfall, den USA nur schwer werden ignorieren können. Das Maryknoll Office for Global Concerns hat daran gearbeitet, die Öffentlichkeit über diese Angelegenheit zu informieren und das Center for Constitutional Rights hat gerade im Namen der Familien der Opfer eine große Klage gegen Goni und den früheren Verteidigungsminister Jose Carlos Sanchez Berzain für Entschädigung- und Bußezahlungen entsprechend dem Alien Tort Statute (ATS) und dem Torture Victim Protection Act (TVPA) angekündigt.

Nach Dekaden von Politikern, die die Schatzkammern des Landes ausgeraubt haben und die Bevölkerung in Armut und Verzweiflung belassen haben, hat Bolivien jetzt einen Anführer, dessen Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit bekannt sind. Bolivien hat auch einen Anführer, der bei der indigenen Bevölkerung Hoffnung weckt. Dieses Hoffnung wird jetzt durch die Erklärung der Rechte der Indigenen Völker weltweit verkörpert, eine brandneue Erklärung, die nach 25-jährigen Bemühungen von den Vereinten Nationen in diesem September angenommen wurde. Bei der Basiskonferenz mit Morales hob Tonya Gonella Frichner, die Präsidentin und Begründerin der American Indian Law Alliance, Boliviens hilfreiche Rolle bei der Verabschiedung der Erklärung gespielt hatte, hervor und sie und Morales stimmten überein, dass „es der nächste Schritt ist, sicherzustellen, dass die Erklärung umgesetzt wird.“

Bemüht, indigene Weisheit zur Lösung der globalen Klimakrise einzusetzen, ruft Morales die Vereinten Nationen dazu auf, weltweites indigenes Forum einzurichten, um „eine neue Herangehensweise an wirtschaftliche Beziehungen zu fördern, die auf der Wertschätzung natürlicher Ressourcen beruht und nicht auf deren Ausbeutung.“

Die Welt kann von den umweltverträglichen Lebensstilen der indigenen Völker und der Basisbewegung, die in Bolivien an die Macht gekommen ist, viel lernen. In einer Zeit, in der unser Planet nach visionärer und integerer Führung sucht, sollten uns allen Evo Morales und das bolivianische Beispiel Hoffnung geben.

Übersetzung aus dem Englischen: Lena Jöst, Kassel/Passau

* Deborah James ist Direktorin der Internationalen Programme am Zentrum für Wirtschafts- und Politikforschung (International Programs at the Center for Economic and Policy Research;
Medea Benjamin ist Mitbegründerin von "Global Exchange and CodePink: Women for Peace"

Original veröffentlicht am 1.Oktober 2007; CommonDreams.org;
www.commondreams.org



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