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Morales' Problem mit der Straße

Bolivianische Tieflandindianer setzen Protestmarsch fort

Von Benjamin Beutler *

Das umstrittene Straßenbauprojekt durch den Nationalpark TIPNIS beschäftigt Boliviens Regierung weiterhin und überschattet die in zwei Wochen bevorstehenden Wahlen zum Obersten Gericht.

In Bolivien macht der Protestmarsch gegen den Straßenbau durch das Schutzgebiet »Indigenes Territorium Nationalpark Isiboro Sécure« (TIPNIS) weiter Schlagzeilen. Mehr als eine Woche nach der polizeilichen Auflösung ihres Zeltlagers und zwangsweisen Heimreise haben sich rund 600 Straßenbaugegner nahe der Nationalstraße 3 neu formiert. »Wir werden den Fußmarsch fortsetzen und nach La Paz kommen«, erklärte am Montag Fernando Vargas, in Palos Blancos, einer kleinen Ortschaft 230 Kilometer nordöstlich der Anden-Hauptstadt. Der Pressesprecher der Demonstrierenden verkündete: »Unsere Forderung gegen die Straße bleibt, es gibt seitens der Regierung keine Garantien für den Verzicht ihres Baus«. Vargas gehört zu den indigenen Bewohnern des 1,2-Millionen-Hektar-Schutzgebietes.

Zwecks »tiefgehender Aufklärung« und »Bestrafung der verantwortlichen Befehlsgeber« der Polizeiaktion hatte Präsident Evo Morales vergangene Woche eine Untersuchungskommission ins Leben gerufen. Am gestrigen Dienstag trafen sich Vertreter der Vereinten Nationen und der »Organisation Amerikanischer Staaten« (OAS) in La Paz, um ihr weiteres Vorgehen abzusprechen. Über die Zukunft der Straße soll ein Referendum in den Departamentos Beni und Cochabamba entscheiden.

Unklar ist, wer den Befehl zur Auflösung des TIPNIS-Marsches gab. Rücktritte von Innenminister Marcos Farfán und Regierungsminister Sacha Llorenti haben wenig Licht in die Befehlskette gebracht. Grund für das Durchgreifen der Sicherheitskräfte war offiziellen Angaben zufolge die aggressive Stimmung zwischen TIPNIS-Protestlern, die Außenminister David Choquehuanca vier Stunden in ihrer Gewalt hielten, und gewaltbereiten Gegendemonstranten. Behörden befürchteten eine Eskalation ähnlich wie 2006 in der Bergbau-Stadt Huanuni. Damals war es zwischen staatlichen und privaten Bergleuten zu Auseinandersetzungen um Schürfrechte gekommen, 16 Menschen starben. Morales, ein Jahr im Amt, bezeichnete dies als »schwärzesten Tag seiner Regierung«.

Kritiker der Linksregierung haben die Steilvorlage derweil dankend angenommen. Der Image-Schaden für die »Regierung der sozialen Bewegungen« ist enorm. Schlagzeilen nach dem Motto »Indigene gegen Indigene« oder »Morales knüppelt Indianer nieder« zeichnen das Bild eines »Indio-Autokraten«, dessen Macht angesichts »unbeherrschbarer Zustände« zunehmend in die Brüche geht. Dabei hatte Morales den nach eigenen Aussagen »unverzeihlichen« Polizeieinsatz postwendend verurteilt. »Wie kann ich Befehle zur Gewalt gegen Demonstranten geben, habe ich als Gewerkschaftler doch selber Aggression und Folter erlitten«, so der Chef der Koka-Bauern-Gewerkschaft am Montagabend in einem TV-Interview. Umfragen zufolge steht die Mehrheit der Bolivianer hinter dem Infrastruktur-Projekt, das aus Geldmangel seit Jahrzehnten in der Schublade liegt.

Der Polizeieinsatz gegen die Indigenen sorgte international für Aufmerksamkeit. Gegen ihren Willen wurden die gefesselten TIPNIS-Protestler in Reisebussen abtransportiert. Ein Teil der demonstrierenden Männer, Frauen und Kinder geriet in Panik und flüchtete in den umliegenden Wald. Entgegen aufgeregter Medienberichte vom »brutalen Niederknüppeln von Indianern« hatte es bei dem Einsatz der Anti-Aufruhr-Einheiten weder Verhaftungen noch Verletzte oder gar Tote gegeben. Tagelang verbreitete Boliviens Bischofskonferenz und der katholische Radiosender ERBOL die Nachricht vom Tod eines Säuglings, TV und Tageszeitungen zogen nach. Die Falschmeldung wurde bis heute nicht richtiggestellt.

Der Regierungschef der »Bewegung zum Sozialismus« vermutet hinter »legitimen« Umweltprotest politische Motive. »Eine schwarze Hand, die Präsident und Regierung in ein schlechtes Licht rücken möchte« habe sich an den TIPNIS-Marsch gehängt, so Morales.

Der Tiefland-Indigenen-Verband CIDOB hat den Marsch organisiert. Er lässt sich von einem Anwaltsbüro in Washington vertreten. Chef von Arp & Associates ist Jaime Aparicio Otero, Exminister und Washington-Diplomat des 2003 in die USA geflüchteten Präsidenten und Morales-Gegner Gonzalo Sánchez de Lozada.

In zwei Wochen ist Boliviens Bevölkerung dazu aufgerufen, sein oberstes Richter-Personal per Stimmzettel zu wählen - ein Experiment, das noch kein Land gewagt hat und das viele MAS-Gegner gern scheitern sehen würden.

* Aus: neues deutschland, 5. Oktober 2011


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