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Polizei stoppt Protestmarsch

Bolivien: Demonstration von Straßenbaugegnern aufgelöst und Referendum angekündigt

Von Benjamin Beutler *

In Bolivien hat der Konflikt um den Bau einer Durchgangsstraße durch das Schutzgebiet »Indigenes Territorium Nationalpark Isiboro Sécure« (TIPNIS) einen neuen Höhepunkt erreicht. Polizisten lösten am Sonntag einen Protestmarsch gegen das Straßenbauprojekt Villa Tunari – San Ignacio de Moxos auf. In einer halbstündigen Aktion drangen rund 500 Uniformierte in ein provisorisches Zeltlager der Straßenbaugegner ein, das sich nur wenige Meter von einer Polizeisperre in der Ortschaft Chaparina entfernt befand. Mit Tränengas und Schlagstöcken bewaffnet, zwangen sie die TIPNIS-Demonstranten, in bereitstehende Reisebusse zu steigen und in das nahegelegene San Borja zu fahren. Von dort aus sollen sie in ihre Heimatdörfer zurückkehren.

Unter Frauen und Kindern sei sofort Panik ausgebrochen, berichteten Augenzeugen. Eine unbekannte Personenzahl sei in den Wald geflohen, darunter Alejandro Almaraz, Exminister für Landfragen sowie die Protestmarsch-Organisatoren Adolfo Chávez vom Tiefland-Indigenen-Verband CIDOB und Rafael Quispe vom Hochland-Indigenenbund CONAMAQ. In einem Telefongespräch mit dem katholischen Radiosender ERBOL verurteilte der Ex-MAS-Politiker Almaraz die »Brutalität der Morales-Regierung«. Dennoch werde »der 8. Große Indigene Marsch nicht aufhören«, im Wald werde man sich sammeln und weiter in Richtung Regierungssitz La Paz laufen. Der sofort am Abend von regierungskritischen Medien vermeldete Tod eines zwei Monate alten Säuglings konnte bisher nicht bestätigt werden. Auch die Zahl möglicher Verhaftungen ist noch unklar.

Aus Polizeikreisen hieß es, man habe auf die Eskalation der Lage in den letzten Tagen reagiert sowie den Schutz der »physischen Unversehrtheit« der Einsatzkräfte gewährleisten müssen. »Das war ausschlaggebend«, sagte Einsatzleiter Óscar Muñoz, rechtfertigte die Polizeiaktion aber auch mit der »Aggressivität (der Demonstranten) gegen Regierungsauto­ritäten«. Er wies darauf hin, daß die Beamten »keine Schußwaffen« getragen hätten.

Die Stimmung rund um den TIPNIS-Protestmarsch war zunehmend aufgeheizt worden. Am Sonnabend waren Außenminister David Choquehuanca und der Minister für soziale Bewegungen, César Navarro, zu Vermittlungsgesprächen angereist, woraufhin sie von Straßenbaugegnern vier Stunden lang gegen ihren Willen festgehalten wurden, so lokale Medien. Mit den Ministern als menschlichen Schutzschilden hätten die Demonstranten die gesperrte Brücke San Lorenzo durchbrochen.

Vier Polizisten waren durch Schüsse mit Pfeil und Bogen leicht verletzt worden. Die Sperre war aus Sicherheitsgründen errichtet worden, um Straßenbaugegner von Straßenbaubefürwortern zu trennen und einen befürchteten Gewaltausbruch zu verhindern.

Fast zeitgleich hatte sich Präsident Evo Morales am Sonntag (25. Sept.) mit verhandlungsbereiten Vertretern von 16 indigenen Völkern getroffen. In den Departamentos Cochabamba und Beni wird nun ein Referendum über das »Teilstück II« durch TIPNIS entscheiden. »Sie sollen Ja oder Nein sagen, das ist es, wovon ich immer rede, wenn ich sage, ich regiere dem Volke gehorchend«, so Morales. Auch über den Verlauf durch das Schutzgebiet von der Größe Jamaikas, in dem rund 6000 Indigene verschiedener Ethnien leben, werde neu diskutiert. Bei einer Mehrheit werde es »eine Studie geben darüber, wo die Straße entlangführt, um der Umwelt keinen großen Schaden zuzufügen«, versprach der MAS-Chef. Ein neues Gesetz mit drastischen Strafen soll zudem die befürchtete Neuansiedlung von Koka-Bauern eindämmen.

* Aus: junge Welt, 27. September 2011


Bolivianische Indigene im Streit

Nach gewaltsamer Auflösung eines Protestmarsches setzt Regierung Morales auf Referendum

Von Benjamin Beutler **


Am Wochenende erreichte der Konflikt um den Bau einer Straße durch das »Indigene Territorium Nationalpark Isiboro Sécure« (TIPNIS) einen neuen Höhepunkt: Rund 500 Polizisten lösten den »8. Großen Indigenen Marsch für die Verteidigung des TIPNIS« gewaltsam auf.

Seit über einem Monat bestimmt der Protestmarsch von Tiefland-Indigenen gegen den Bau einer Straße durch ihr Territorium die Schlagzeilen in Bolivien. Am 15. August hatten die Ureinwohner ihren Marsch von Trinidad im Zentrum Boliviens zum Regierungssitz La Paz – 600 Kilometer entfernt – begonnen. Anlass ihres Protests ist der von der Regierung geplante Bau einer gut 300 Kilometer langen Nord-Süd-Schnellstraße von Villa Tunari nach San Ingnacio de Moxos, durch die Boliviens Anbindung ans benachbarte Brasilien verbessert werden soll. Die Straße soll auch durch den Nationalpark Isiboro Sécure führen, in dem etwa 50 000 Moxenos-, Yurakarés- und Chimanes- Indigene leben. Sie fürchten die Verdrängung ihrer Gemeinden durch Abholzung und illegale Besiedlung im Gefolge des Straßenbaus.

Am Sonntag (25. Sept.) drangen Polizeikräfte überraschend mit Tränengas und Schlagstöcken in ein Zeltlager der Protestierenden bei Yucumo ein und räumten es. Reporter berichteten, es habe mehrere Verletzte gegeben. Begründet wurde die Aktion von Einsatzleiter Óscar Muñoz mit einer »Gefährdung der Sicherheit der Polizisten«. Seine Männer seien von »einer Gruppe Bogenschützen« umstellt worden. Nach der Räumung des Lagers wies Muñoz darauf hin, dass keiner der Polizisten Schusswaffen mit sich getragen habe.

Eine kleine Gruppe von Männern mit Pfeil und Bogen wurde überwältigt und in Handschellen abgeführt. Zusammen mit Frauen und Kindern, die den Protestmarsch von Beginn an begleitet hatten, wurden die gefesselten Straßenbaugegner unter Protest in bereit stehende Reisebusse gebracht. Am Montag meldeten Augenzeugen die Ankunft eines der Busse auf dem Flughafen der Amazonas-Kleinstadt Rurrenabaque, wo dessen Insassen in ein Flugzeug in Richtung Trinidad, Hauptstadt des Departamentos Beni, gestiegen seien.

Einem Teil der Protestler gelang die Flucht ins Dickicht. »Viele Anführer und Indigene sind in den Wald geflohen«, im Durcheinander seien »37 Menschen verschwunden«, heißt es in einer Presseerklärung der Organisatoren des Marsches. Adolfo Chávez vom Tiefland-Indigenen-Verband CIDOB, Rafael Quispe vom Hochland-Indigenen-Bund CONAMAQ und der ehemalige Minister für Landfragen Alejandro Almaraz kündigten aus einem Versteck heraus die Fortführung des Protestmarsches an. Die Polizeiaktion zeige die »Brutalität der Morales-Regierung«, sagte Almaraz in einem Telefoninterview.

Evo Morales, Boliviens erster indianischer Präsident, versteht sich als Verteidiger der Indigenen- Rechte. Er hatte einer Abordnung der Protestierenden angeboten, im Präsidentenpalast von La Paz mit ihnen zu sprechen.

Bei Temperaturen von 35 Grad im Schatten war die Stimmung bereits am Sonnabend hochgekocht. »Die aggressive Haltung der Demonstranten gegenüber Personen, die zu Gesprächen gekommen waren«, sei weiterer Grund für die durch richterlichen Beschluss gedeckte Auflösung des Lagers gewesen, sagte Einsatzleiter Muñoz. Zu Verhandlungen waren Boliviens Außenminister David Choquehuanca und César Navarro, Minister für soziale Bewegungen, angereist. Die Straßenbaugegner hielten sie über vier Stunden lang fest und benutzten sie schließlich als menschliche Schutzschilde, um die gesperrte Brücke San Lorenzo zu überqueren. Vier Polizisten seien durch Schüsse mit Pfeil und Bogen leicht verletzt worden.

Auch etwa 200 Gegendemonstranten – vor allem indianische Koka-Bauern – hatten den Marsch der Straßenbaugegner aufhalten wollen. Beobachter und Menschenrechtsorganisationen hatten wiederholt vor einer Zuspitzung für den Fall gewarnt, dass beide Lager aufeinandertreffen. Seit Tagen bildeten die Sicherheitskräfte daher einen Puffer zwischen Gegnern und Befürwortern des Bauvorhabens.

Menschenrechts-Ombudsmann Rolando Villena bezeichnete den Polizeieinsatz als »extreme Maßnahme«. Yuriko Yosukawa vom UN-Landesbüro verurteilte den Einsatz von Tränengas »ohne Rücksichtnahme auf Frauen und Kinder«.

Nach einem Treffen mit Vertretern von 16 Ethnien aus dem TIPNIS kündigte Präsident Evo Morales am Sonntag die Abhaltung eines Referendums in den Departamentos Beni und Cochabamba an. »Ich regiere dem Willen des Volkes entsprechend«, erklärte Morales. Ein Gesetz soll die von den Protestlern gefürchtete Besiedlung des Naturreservats durch Koka-Bauern verhindern, indem es Gefängnisstrafen bis zu 30 Jahren androht.

** Aus: Neues Deutschland, 28. September 2011


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