Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Eine Justiz, die alle Menschen gleich behandelt"

Reform in Bolivien soll indigene Rechtsprechung anerkennen. Ein Gespräch mit Justizministerin Casimira Rodriguez Romero



Frage: Wie unterscheidet sich die Regierung Evo Morales von den vorherigen in Bolivien?

Casimira Rodriguez Romero: Wir erleben einen Wandel. Die erste wichtige Maßnahme unseres Kabinetts war ein Sparplan, der vor allem die Regierung selbst betraf. Das Gehälter des Präsidenten und der Minister wurden gekürzt. Dann begannen in Bolivien die Agrarreform und Programme zur Alphabetisierung der Bevölkerung, außerdem haben wir die kostenfreie Gesundheitsversorgung, die früher nur für Kinder galt, auf die Erwachsenen ausgeweitet. Bei all diesen Maßnahmen gehen wir auf die Bevölkerung zu und beraten uns mit den Basisorganisationen, viele dieser Initiativen gehen auf Forderungen dieser Organisationen zurück.

Hat die Tatsache, daß nun Indigenas in der Regierung sitzen, zu diesem Wechsel beigetragen?

Wir sind von allen Seiten Vorurteilen ausgesetzt. Früher wurden wir von einer kleinen, weißen Elite regiert, die jetzt von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) abgelöst worden ist. In der Regierung gibt es nun Mitglieder von Basisorganisationen. Das hat zu einem Bruch mit den alten Eliten geführt. Doch immer wieder hört man die alten paternalistischen Vorurteile: »Wie kann ein Indigena, ein Bauer regieren?«

Sie haben eine Reform des Justizwesens eingeleitet. Was war an der Rechtsprechung zuvor nicht in Ordnung?

Die Menschen vertrauten dem alten Justizwesen nicht mehr, zu viele Richter und Staatsanwälte hatten sich als korrupt erwiesen. Prozesse wurden verschleppt, und die Justiz war parteiisch: Kleine Leute wurden verfolgt, bei Mitgliedern der Elite hat man oft ein Auge zugedrückt. Arme Leute konnten es sich rein finanziell nicht leisten, ein Gerichtsverfahren anzustrengen. Wir werden daran arbeiten, daß die Justiz gerechter wird und die Menschen wieder auf sie vertrauen können. Deshalb wollen wir auch dem Justizwesen der indigenen Gemeinschaften einen legalen Status geben.

Was hat man unter der Rechtsprechung der Indigenen zu verstehen?

Es handelt sich um eine uralte Justiz, die sehr nah bei der Bevölkerung angesiedelt ist, anders als die westliche Rechtsprechung. Die indigene Justiz hat es immer gegeben, aber ihre Urteile und Sanktionen wurden offiziell nicht anerkannt. Wenn wir sie in Bolivien endlich akzeptieren, retten wir auch einen Teil der kulturellen Werte und der Erinnerung der indigenen Völker.

Wie laufen indigene Gerichtsverfahren ab?

Es ist eine Justiz »ohne Papiere«. Eine Justiz der Gemeinschaft, die nicht elitär ist, die alle Menschen gleich behandelt, die öffentlich stattfindet und uns wieder zur mündlichen Kultur der indigenen Gemeinschaften führt. Sie wird an Orten praktiziert, in denen kein formelles Justizwesen existiert. Bei den Prozessen werden die Beklagten, die Kläger und die Zeugen und deren Familien öffentlich befragt von den Mitgliedern der Gemeinschaft. Es gibt keine Anwälte oder Richter. Die Ermittlungen werden von der Gemeinschaft zusammen angestellt. Als Strafen werden meist gemeinnützige Arbeiten verhängt, im schlimmsten Fall der Ausschluß aus der Gemeinschaft. Die Justiz funktioniert, weil durch ihren öffentlichen und kollektiven Charakter nach den Urteilen eine starke soziale Kontrolle wirkt.

Was soll jetzt durch die Reform verändert werden?

Wir wollen einen Rahmen schaffen, der die Justiz regelt. Nicht überall wird sie gleich gehandhabt, die unterschiedlichen Gemeinschaften – in Bolivien leben 36 Ethnien – haben unterschiedliche Methoden der Rechtsprechung entwickelt. Wir wollen sie in dieser Diversität, die Bolivien ausmacht, anerkennen. So werden die Gerichtsverfahren in der vor Ort gesprochenen Sprache abgehalten. Und wir wollen durchsetzen, daß die Prozesse die Menschenrechtskonventionen respektieren.

Kommt es nicht zu Überschneidungen mit dem formellen Justizwesen?

Es herrscht das Prinzip der Territorialität, also in Städten wird weiterhin die formelle Justiz zuständig sein, allerdings in den indigenen Gebieten die gemeinschaftliche Justiz. Es gibt aber Grenzen. Zum Beispiel bei Mordfällen, die allein schon wegen der für die Spurensicherung notwendigen Instrumentarien auch in Zukunft von den formellen Ermittlern und Gerichten verfolgt werden müssen.

Interview: Timo Berger

* Casimira Rodriguez Romero ist Justizministerin in der Regierung von Evo Morales in Bolivien. Früher war die Indigena als Hausangestellte beschäftigt und kämpfte für die Anerkennung der Rechte der Hausarbeiterinnen.

Dieses Interview und der nachfolgende Artikel (Kasten) erschienen am 6. Oktober in der Tageszeitung "kunge Welt"


Selbst erkämpfte Rechte

Die Quechua-Indianerin und frühere Hausangestellte Casimira Rodriguez Romero ist seit Januar Justizministerin Boliviens. In Berlin sprach sie über über ihre ehrgeizigen Ziele

Von Timo Berger *

Casimira Rodriguez Romero tritt freundlich, aber bestimmt auf. Sie trägt eine weiße Spitzenbluse, ein traditionelles Kleidungsstück der Quechua-Indianerinnen, darüber fällt eine einfache, graue Strickjacke. Sie ist eine von drei Frauen in der seit Anfang des Jahres amtierenden Regierung von Evo Morales, dem ersten indigenen Präsidenten Boliviens. Am Montag war die bolivianische Justizministerin im Iberoamerikanischen Institut Berlin zu Gast. Sie lächelte in die Runde der anwesenden Journalisten und stellte zunächst die Grundzüge des Programms der Regierung Morales vor. Wichtigstes Merkmal sei der Wechsel des politischen Stils: Man gibt sich bescheiden und volksnah, nicht mehr elitär. Rodriguez steht in ständigem Austausch mit den Basisorganisationen, aus denen auch viele ihrer Mitarbeiter kommen. Jahrelang hat sie als Vorsitzende der Nationalen Föderation der Hausangestellten für deren Rechte gekämpft.

Erlebte Ausbeutung

Ihr ambitioniertestes Projekt als Ministerin ist die Reform des Justizwesens. Korruption und die Ungleichbehandlung insbesondere der Indigenen haben in dem Andenland dazu geführt, daß die Bevölkerung das Vertrauen in die Justiz verloren hat. Als Leitbild für ihre Arbeit sieht Rodriguez die traditionelle Gerichtsbarkeit der Indigenen. In den indianischen Gemeinschaften gibt es ein informelles Justizsystem, das noch aus der Zeit vor der spanischen Conquista stammt. »Eine Justiz ohne Papiere«, sagt die Ministerin. Die Prozesse finden öffentlich statt, es gibt keine Anwälte, keine Richter. Die Mitglieder der Gemeinschaften verhängen Sanktionen und überwachen deren Einhaltung. Künftig sollen in Bolivien beide Gerichtsbarkeiten parallel existieren.

Bevor sie Ministerin wurde, war Rodriguez Hausangestellte. Als einzige Tochter einer Bauernfamilie wurde sie von Eltern und Brüdern liebevoll umsorgt. Als ihr vor einigen Jahren der Weltfriedenspreis der Methodistischen Kirchen verliehen wurde, berichtete sie, wenn die Großgrundbesitzer auf Dorffesten Süßigkeiten an die Kinder verteilten, habe sie diese Geschenke ausgeschlagen. Im Alltag erlebte sie schließlich, wie die Latifundistas ihre Eltern zu harten Arbeitsdiensten heranzogen.

Mit dreizehn wurde sie in die Stadt geschickt. Zwanzig Jahre lang schuftete sie sieben Tage die Woche in fünf verschiedenen Familien als Hausangestellte. Gleich in der ersten Anstellung mußte sie fünfzehn Personen versorgen – den ganzen Sonntag Wäsche waschen, und den Rest der Woche kochen, bügeln, mit den Kindern spielen, einkaufen. Sie erlebte die doppelte Diskriminierung als Hausangestellte und als Indigena. Tiefe Wunden seien aus jener Zeit geblieben, sagt Ro­driguez heute. Bei einem Schneiderkurs lernte sie Frauen in ähnlichen Situationen kennen. Hier begann ihr öffentliches Engagement für eine Gewerkschaft der Hausangestellten, das sie ihren Arbeitsplatz kostete. »Als mir klar wurde, daß ich Rechte hatte, war das wie ein Fieber«, erzählt sie. Sie trieb den Aufbau der Gewerkschaft voran, weil sie erkannt hatte, daß nur Solidarität und Vernetzung mit anderen Organisationen an der rechtlosen Situation der Hausangestellten etwas ändern konnten.

Mit langem Atem

1992 legte ihre Gewerkschaft dem bolivianischen Parlament den ersten Gesetzentwurf zur Regelung der Arbeit in fremden Haushalten vor. In dieser Zeit lernte sie Evo Morales kennen, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Seitdem hat sich viel geändert. 2002 wurde endlich ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, das Grundrechte für die Hausangestellten festschreibt – etwa einen Mindesturlaub von 15 Tagen und eine maximale Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche. Rodriguez ist überzeugt, daß mit dem Gesetz der nötige Druck auf die Arbeitgeber ausgeübt werden kann.

Ähnlich optimistisch schätzt sie auch die Aussichten für die Reformvorhaben der Regierung Morales ein. »Wir erleben einen historischen Wandel«, sagte sie am Montag; »Manchmal macht man drei Schritte nach vorn und muß dann wieder zwei zurückgehen«. Aber das sei kein Einknicken. Für die anstehenden tiefgreifenden Veränderungen brauche es eben einen langen Atem. Die weißen oligarchischen Eliten, die das Land jahrhundertelang zu ihrem eigenen Vorteil regiert haben, werden ihre Privilegien nicht widerstandslos aufgeben. Doch die indigene Bevölkerungsmehrheit, da ist sich die Ministerin sicher, werde nicht mehr schweigend zusehen.



Aus: junge Welt, 6. Oktober 2006

Hier geht es zu einem weiteren Interview mit Casimira Rodriguez Romero: "Die Regierung kommt von unten"


Zurück zur Bolivien-Seite

Zurück zur Homepage