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Kein guter Rat für La Paz

In Bolivien sind Gas, Öl und Bergbau unverzichtbar für Armutsreduzierung, Industrialisierung und Souveränität. In der Rosa-Luxemburg-Stiftung hält man das für einen Irrweg

Von Benjamin Beutler *

»Red Erbol« ist in Bolivien eines der populärsten Radios. Das Sprachrohr der katholischen Kirche, die mit der linken Regierung von Präsident Evo Morales offen auf Kriegsfuß steht, konnte sich im Mai über Studio-Besuch aus Deutschland freuen. »Die Interviewte kritisiert die Richtung des sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der sich in der Mehrheit der Fälle auf bloße Wort­hülsen reduziert, um Politiken des Extraktivismus zu verschleiern«, kündigte der Sender ein Gespräch im Morgenformat »Mapamundi« an. Zu Gast war kein erklärter Gegner der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS), die das Zehnmillionen-Einwohnerland seit 2006 vom neoliberalen Musterschüler zum Lieblingsgegner der konservativen Internationale umkrempelt, sondern eine Linke.

Am Mikrofon saß Miriam Lang, Leiterin des Auslandsbüros für die Andenregion der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Quito. Mit Publikationen und Seminaren unterwegs, versteht sich die komplett von Frauen geführte RLS-Filiale als intellektuelle Speerspitze. Für Bolivien habe man sich auf »die Suche nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell« gemacht, das »bislang ausschließlich auf dem Export von natürlichen Ressourcen« beruhe. »Extraktivismus«, also Abbau von Rohstoffen und deren Export auf den Weltmarkt, ist für die RLS-Expertinnen nichts als Kapitalismus. Per Handstreich wird Linksregierungen in Bolivien, Venezuela und Ecuador der falsche Entwicklungsweg unterstellt.

Manch verschlafener Radiohörer mochte seinen Ohren nicht getraut haben. »Wir haben heute dieselbe Situation wie zu Kolonialzeiten, hier werden Dinge aus dem Boden geholt und nach woanders gebracht«, sagte Lang und machte einen »Kolonialismus des 21. Jahrhunderts« aus. Die »Triade Fortschritt, Entwicklung, Wachstum« sei ein fataler Irrweg, »perverse« Folge der »Mentalität dieser Moderne«. Nicht die Industrialisierung von Gas, Eisenerz und Lithium, wie von La Paz angepeilt, sei der richtige Weg, sondern »Stärkung des Autochthonen«, legte die in München geborene Soziologin den Bolivianern nahe. Es gelte, »nicht die Fehler des Nordens zu wiederholen«.

Hier hielt es der Moderator nicht mehr aus. Seine Landsleute hätten ein Recht auf die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, bemerkte der baffe Journalist. Dieser »Agenda aus dem Norden«, alles wohlfeile Kritik »deutscher Ökos«, in den unterentwickelten Ländern fehle schließlich das Notwendigste.

Verständlich. Seine Heimat ist noch immer Armenhaus des Kontinents. Mangels Hospitälern, Ärzten und Dialyse-Geräten stirbt der Mensch hier früher als anderswo. Nirgends vom Rio Grande bis Feuerland überleben so viele Kinder das erste Lebensjahr nicht. Das Straßennetz ist kleiner als das einer deutschen Großstadt. Nur jeder zweite hat Strom, geschweige Computer mit Internet. Sauberes Wasser aus dem Wasserhahn ist Luxus. Fortschritt, Wachstum und Entwicklung werden nicht als Bedrohung abgelehnt, sie sind Überlebensfragen. Statt konstruktiver Solidarität mit der Verstaatlichung von Bodenschätzen und Ermunterung zur Umverteilung der Rohstoff-Rente durch Sozialprogramme an die Ärmsten gibt es von der RLS schlechte Ratschläge.

Miriam Lang sieht das anders: »Ihr habt einen Vorteil, ihr könnt einen anderen Weg gehen, bevor ihr in dieselbe Falle tappt wie wir« und »Wozu brauchen wir denn eine Stahlindustrie«, fragte sie. In der Tageszeitung La Razón legt Lang nach: »Der Sozialismus als Utopie bleibt problematisch«, argumentiert Frau Lang von der Stiftung, die Rosa Luxemburgs Namen trägt: »Schwere Fehler des 20. Jahrhunderts« wie die »moderne Logik des Wachstums«, der »Wettbewerb mit dem kapitalistischen System« und »die ganze Entwicklung der Produktivkräfte« habe die »Zivilisation an den Abgrund geführt«. An Kolonialismus, Krieg und Klimakrise seien darum Kapitalismus und Sozialismus des 20. Jahrhunderts »genauso schuldig«.

Bewußt oder unbewußt bricht sich hier die im Kalten Krieg von der bundesrepublikanischen Linken bevorzugte Konvergenztheorie und Industriegesellschaftstheorie neue Bahn. Ab den 1960er Jahren war es westlich der Elbe Mode, die Ostblockstaaten des Realsozialismus als verkappte Kapitalisten zu verdammen. Auf der anderen Seite der Mauer quetsche nicht die Unternehmerschaft, sondern eine rotlackierte Bürokratenelite die Bevölkerung aus. Die bizarre Übereinstimmung mit westlichen Entwicklungstheoretikern wie dem Oval-Office-Berater Zbig­niew Brzezinski störte kaum. Verstaatlichungen durch Kreml-Politkader seien »bloß ein technisch-politisches Mittel, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, die Entwicklung der Produktivkräfte zu beschleunigen und sie von oben zu kontrollieren«, teilte Herbert Marcuse 1964 in »Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus« gegen den dortigen Staatskapitalismus aus. Weiter ging Max Horkheimer. Durch Beseitigung des Privateigentums seien diese »autoritären Staaten« kapitalistischer als Hitler-Deutschland oder Franco-Spanien.

Heute werden ähnliche analytische Fehlschüsse grün gepinselt und auf Südamerikas Linksruck-Länder übertragen. Die eklatante »Geringschätzung der ökonomischen Dimensionen der Eigentumsbeziehungen« brandmarkte schon Anfang der 1980er Rainer Rilling. Damals warnte der Senior Research Fellow der RLS am Institut für Gesellschaftsanalyse in einer Analyse vor »wirrer« Gleichmacherei und »völliger Konfusion«. Südamerikas Linke erlebt heute einen historischen Moment – und einigen Intellektuellen aus Deutschland, die in Zeiten neoliberaler Restauration Europas auf die »Neue Welt« schauen, fällt nicht mehr ein als ein Aufguß alter Sozialismuskritik. Die Rechte reibt sich die Hände.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 14. August 2013


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