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Justiz für alle

Boliviens Präsident Evo Morales vereidigt per Stimmzettel gewählte Richter

Von Benjamin Beutler *

Der Ort für die offizielle Vereidigung der 56 Richter hätte nicht besser ausgesucht sein können. Ausgerechnet im pompösen Kolonialgebäude des Obersten Gerichtshofes wagte Boliviens Justiz diese Woche den Neuanfang. »Die Rechtsprechung ist nicht für Leute mit Geld und Einfluß, das war früher«, richtete sich Staatschef Evo Morales in seiner Rede am Dienstag an die anwesenden Juristen, viele von ihnen Frauen sowie Aymara und Quechua, die indigene Mehrheit des Andenlandes. »Was Bolivien braucht, ist eine unabhängige und transparente Rechtsprechung, auch ihre Langsamkeit und Diskriminierung muß aufhören«, so der eindrückliche Appell des ersten indigenen Präsidenten des Andenlandes. »Die Justiz des kolonialen Staates, die sich den Parteien unterordnet und als korrupt bezichtigt wird, ist vorbei«, erklärte Morales. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte der Demokratie hatten im Oktober letzten Jahres vier Millionen wahlberechtigte Bolivianer die Möglichkeit, direkt über die höchsten Richter abzustimmen. Das von der regierenden »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) mit Zweidrittelmehrheit kontrollierte Parlament hatte eine Vorauswahl getroffen, auf meterlangen Stimmzettel standen in 23866 Abstimmungslokalen 115 Kandidaten zur Wahl.

Von den künftigen Vorsitzenden von Verfassungsgericht, Oberstem Gerichtshof, Verwaltungsgericht sowie Land- und Umwelttribunalen erwarte Morales niemanden, der ihn »verteidigt oder beschützt«, ging der Regierungschef auf nicht verstummende Vorwürfe der Opposition ein. »Das ganze ist Betrug«, schimpfte Rubén Costas, Präfekt im Tiefland-Departamento Santa Cruz, Hochburg der europäisch-stämmigen Oligarchie von Großgrundbesitzern und Unternehmertum. »Die Richter haben keinerlei Legitimität«, urteilte der wegen Verstrickungen in ein Mordkomplott gegen Morales vor der Staatsanwaltschaft flüchtige Präfekt die Amtseinführung als »demokratische Farce« ab. Tatsächlich nutzten viele Wähler die Wahlen im Oktober als Gelegenheit, ihren Unmut über die Zentralregierung in La Paz durch ungültige Stimmabgabe oder Wahlenthaltung zum Ausdruck zu bringen. Dafür hatten Privatmedien und rechte Opposition massiv die Werbetrommel gerührt. Die Richterwahl sollte zur »ersten Wahlniederlage« der Morales-Administration stilisiert werden.

Doch das Märchen von parteigesteuerten Richtern ohne Legitimität ist an den Haaren herbeigezogen. Während in der Mehrheit der Staatenwelt das höchste Justizpersonal direkt vom Präsidenten, dem Parlament oder gar wie in Deutschland von einer Parlamentskommission bestimmt wird, so wurden in Bolivien einzig die Kandidaten zur Richterwahl vorausgewählt. Parteimitgliedschaft war ein Ausschlußkrite­rium.

19 von 26 vorsitzenden Richtern sind nun Frauen und Indigene. Ein in Bolivien nie gewesenes Zeichen von »Vielfalt und Ergebnis der Revolution«, so Morales. Bestes Beispiel ist Cristina Mamani. Die neue Präsidentin des Verwaltungsgerichtes und Aymara aus La Paz erhielt Stimmten von fast einer halben Million Wählern.

Im Vergleich mit der Situation vor einigen Jahren werden die Veränderungen deutlich. Noch während der Verfassungsgebenden Versammlung im romantischen Theater der »weißen Stadt« Sucre, wo seit 2006 ebenfalls vom Volk gewählte Mitglieder eine neue Magna Charta ausarbeiteten, hatten Gegner der »Neugründung Boliviens« Hetzjagden auf dunkelhäutige Delegierte veranstaltet. Später gingen Bilder entblößter Bauern um die Welt. Unter Beschimpfungen auf dem Hauptplatz der Stadt zusammengetrieben, wurden sie mit Benzin übergossen; der MAS-Anhängerschaft Beschuldigten drohte der Mob mit Verbrennung, mit Holzkreuzen in den Händen mußten sie Morales abschwören. Damit soll nun endgültig Schluß sein. Die am Dienstag vereidigten Männer und Frauen werden bis 2017 ihre Ämter an den Gerichten ausüben.

* Aus: junge Welt, 6. Januar 2012


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