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Denkzettel für Evo Morales

Richterwahl in Bolivien mit vielen Proteststimmen

Von Benjamin Beutler *

Weltpremiere: Die Bolivianer haben am Sonntag (16. Okt.) ihr oberstes Justizpersonal erstmals direkt gewählt.

»Früher wurden die Richter allein von 157 Abgeordneten bestimmt, jetzt sind es Millionen von Menschen, die unsere Richter direkt wählen«, erklärte Boliviens Präsident Evo Morales am Wahlabend. Ersten Umfragen zufolge wurde die Richterwahl am Sonntag jedoch von der explosiven Tagespolitik Boliviens zerrieben. Rund 40 Prozent gültige Stimmen stehen 60 Prozent ungültigen und »Null-Stimmen« gegenüber, vermeldete am Wahlabend der Fernsehsender ATB. Die Wahl verlief offiziellen Angaben zufolge ohne besondere Vorkommnisse. Wie üblich wurden in einigen Wahllokalen Betrugsvorwürfe laut, es seien ausgefüllte Stimmzettel aufgetaucht, meldete ein Radiosender.

Die Wahl stand unter sorgfältiger internationaler Beobachtung. Weder die Vereinten Nationen noch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) stellten Manipulationen fest. Wilma Velasco, Vizepräsidentin des Obersten Wahlgerichtes, zeigte sich zufrieden. Die Abstimmung sei »sehr gut« und »normal« verlaufen. Die Beteiligung der Bürger war »massiv«. Die meisten Stimmen erhielt Christina Mamani, Kandidatin für das Oberste Verwaltungsgericht. Die Juristin aus dem Hochland-Departamento Oruro erhielt fast eine halbe Million Stimmen. Bis jetzt hatte es keine Indigene in ein derart hohes Richteramt geschafft.

Angesichts der vielen Proteststimmen ist die »Demokratisierung der Justiz« allerdings ein Erfolg mit Kratzern. Gekonnt hatten Oppositionsparteien den Urnengang zum Votum gegen die Morales-Regierung umgemünzt. Die war nach der zeitweiligen Benzinpreiserhöhung Anfang 2011 und der polizeilichen Auflösung eines Protestmarsches gegen das TIPNIS-Straßenbauprojekt Ende September unter wachsenden Druck geraten. Auch die »Kampagne der Null-Stimmen« der sozialdemokratischen Bewegung ohne Angst (MSM) und des rechten Nationalen Zusammenschlusses (CN) hat gezündet. Ungültige Stimmen hätten keine Auswirkungen auf die Auszählung, erläuterte der Präsident des Wahlgerichts, Wilfredo Ovando. Ebenso wenig entschieden die Null-Stimmen »über Gewinner und Verlierer«, sagte Ovando, der die Wahl für gültig erklärte. Doch das Wahlverhalten ist ein politischer Denkzettel für Morales.

Opposition und große Medien standen der Justizreform per Stimmzettel von Beginn an feindselig gegenüber. Das Verbot des Wahlkampfes mit Plakaten, Fernsehspots und Wahlpartys wurde mehr als übel genommen. Dieser »Maulkorb für die Meinungsfreiheit« führe zu einer »MAS-Hegemonie in den Gerichten«, lautete die Kritik. Das Wahlgesetz hatte Wahlkampf strikt untersagt. Die Idee: Gleiche Chancen für alle, ob Indígena, Frau oder Millionär. Sollte so die »Politisierung der Justiz« verhindert werden, wurde schnell klar, dass dieser Spagat zwischen neutraler Aufklärung über die Kandidaten und Chancengleichheit aller Bewerber kein leichter sein würde. Auch die Bestimmung, dass die Juristen keiner Partei angehören dürften, konnte den Wahlgegnern nicht den Wind aus den Segeln nehmen.

Die von der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) in Gang gebrachte »Dekolonialisierung der Justiz« ist ein einmaliges Demokratie-Experiment. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte hatten 5,2 Millionen Bolivianer die Möglichkeit, direkt über ihr Justizpersonal abzustimmen. Das vom MAS kontrollierte Parlament hatte eine Vorauswahl getroffen, auf einem meterlangen Stimmzettel standen in 23 866 Wahllokalen 115 Kandidaten zur Wahl. Bis 2017 werden die 56 Gewählten ihre Ämter am Obersten Gerichtshof, am Verfassungsgericht, am Verwaltungsgericht und an Landwirtschafts- und Umweltgerichten ausüben.

* Aus: neues deutschland, 18. Oktober 2011


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