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"Wir sind auf einem guten Weg"

Boliviens Reformen kommen trotz Widerstands der Opposition Schritt für Schritt voran

Vor 18 Monaten trat Evo Morales sein Amt als erster indigener Präsident Boliviens an. Als wichtigste Projekte nannte er die Verstaatlichung der Bodenschätze, die Umverteilung von Land und die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. Über erste Erfolge und die Widerstände der Opposition aus den alten Eliten sprach mit den Abgeordneten der Bewegung zum Sozialismus (MAS), Julia D. Ramos Sánchez und Lucio Canaviri Limachi für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling. Wir dokumentieren im Folgenden das Gespräch.



ND: In der Verfassunggebenden Versammlung von Bolivien hat die zuständige Kommission die Errichtung eines »multinationalen Staates« vorgeschlagen und damit heftige Reaktionen seitens der Opposition ausgelöst. Warum?

Julia D. Ramos Sánchez: Wir haben das Gesetz zur Verfassunggebenden Versammlung mit der Botschaft verabschiedet, »indigene Autonomien« einzurichten. Das stört die Parteien der vorangegangenen neoliberalen Regierung, die in den Provinzen Santa Cruz, Pando, Beni und Tarija nach wie vor an der Macht sind. Dort fordern sie weitgehende Autonomierechte. Doch was ist ihre Vorstellung von Autonomie? Die Eliten haben dort weiter die politische und wirtschaftliche Kontrolle und setzen keine soziale Entwicklung in Gang. Es gibt keine direkte Partizipation, die Erlöse aus den Ressourcen kommen nicht der breiten Bevölkerung zu Gute. Sie verstehen unter Autonomie, ihr neoliberales Modell fortführen zu dürfen. So eine Autonomie wollen wir nicht, sondern eine partizipative, die allen Teilen der Bevölkerung zu Gute kommt. An diesem Konzept halten wir trotz der Widerstände der Rechten fest, die auch mit Gewalt drohen.

Ein Streitpunkt ist auch die Reform des Justizsystems. Neben der staatlichen Justiz soll es künftig auch eine kommunitäre Justiz geben. Wie soll das funktionieren?

JDRS: Es ist ein Justizsystem mit zwei Untersystemen geplant. Beide Systeme werden nebeneinander bestehen und ihre Aktionen untereinander koordinieren. Auf der kommunalen Eben soll es zum Beispiel ein »Sekretariat für Konflikte« geben. Haben zwei Leute ein Problem miteinander, können sie sich ohne formalen und finanziellen Aufwand an diese Streitschlichtungsstelle wenden. Dies gilt für kleinere Streitigkeiten, bei schwereren Gesetzesverstößen greift die gewöhnliche staatliche Jusitz. Der Punkt ist, dass diese keine guten Ruf hat, in der Vergangenheit oft der Recht bekommen hat, der besser gezahlt hat und zudem gewöhnliche Verfahren für die Prozessbeteiligten teuer sind. Das soll sich durch das kommunitäre System ändern. Als Prinzip gilt, das Problem an dem Ort zu lösen, wo es entsanden ist, ohne Verfahrenskosten, die sich die normale Bevölkerung ohnehin nicht leisten kann und deswegen rechtlos blieb.

In welchen Fällen greift diese Justiz konkret und in welchen nicht? Wie sieht es zum Beispiel bei Mord aus?

JDRS: Bei Mord ist die gewöhnliche Justiz zuständig. Die kommunitäre Justiz greift bei einfachen Sachen, wie einfache Diebstähle, einfache Körperverletzung etc.

Gibt es eine Hierarchie zwischen den Systemen?

Lucio Canaviri Limachi: Die Vision der Verfassunggebenden Versammlung sieht beide Justizsysteme als gleichrangig an. Sie sind komplementär. Wir haben eine ethnische Vielfalt in unserem Land, indigene Völker, die ihre Gebräuche und Sitten haben, denen über die Rechtssprechung lokaler Autoritäten auf kommunitärer Ebene Rechnung getragen werden soll.

Die Magna Charta der Verfassung soll bis zum 6. August verabschiedet werden. Ist das angesichts des Widerstands der Opposition realistisch?

LCL: Die Vertreter der Bewegung zum Sozialismus (MAS) haben fest vor, die Fristen zu erfüllen. Es gibt einige Kommissionen in der Versammlung, die schon sehr weit fortgeschritten sind. Insgesamt fehlt aber noch einiges zum Konsens. Das liegt daran, dass die Opposition, die Rechte, ihre Privilegien aus der alten Verfassung nicht verlieren will. Es gibt eindeutig einen Konflikt mit den Gruppen, die dieses Land lange Zeit regiert haben. Wir hoffen dennoch auf eine Lösung, denn die Bevölkerung entfaltet Druck und verlangt, dass die Probleme, die sich über viele Jahre aufgestaut haben, angegangen werden. Die neue Verfassung wird keine endgültige Lösung bringen, sie ist aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg, einen neuen Staat in unserem Land zu gründen.

Wie bewerten sie die ersten 18 Monate der neuen Regierung. Wo liegen die größten Erfolge, wo die größten Herausforderungen?

LCL: Da wären erst einmal die ökonomischen Erfolge zu nennen. Bolivien hatte bis zum Antritt der Regierung Morales 34 Jahre ein Haushaltsdefizit. Nun haben wir zum ersten Mal einen Haushaltsüberschuss erzielt. Das ist bemerkenswert und das ist eine Folge der Verstaatlichungspolitik der Gas- und Ölvorkommen. Dieser Schritt hat uns höhere Einnahmen beschert, die nun auf die Präfekturen und Gemeinden verteilt werden. Dort fließt das Geld in Gesundheits- und Bildungsprojekte. Im sozialen Bereich ist die größere Unterstützung direkt sichtbar. Schüler bekommen vom Staat Geld als Anreiz und Unterstützung, ihre Schulausbildung zu beenden. Umgerechnet soll jedes Kind 20 Euro pro Monat erhalten – 1,2 Millionen Kinder sollen davon profitieren. Auch bei der Infrastuktur und im Wohnungsbau gibt es sichtbare Fortschritte und der Bau schafft Arbeitsplätze. Sicher haben wir noch längst nicht das Optimum erreicht, aber wir befinden uns auf einem Niveau, das vielen Menschen Hoffnung macht. Wir versuchen, das alles im Einklang mit der Natur zu schaffen, denn wir sind ein Teil vor ihr.

Wie stark ist die bolivianische Opposition? Sie blockiert in der Verfassunggebenden Versammlung, droht mit Gewalt, ist sie gar zu einem Putsch fähig?

JDRS: Nein. Sicher wird die Opposition weiter versuchen, den Reformprozess zu stoppen. Aber spätestens bis zum Jahresende wollen wir die Magna Charta fertig haben und zur Volksabstimmung vorlegen. Und für 2008 sind allgemeine Wahlen geplant, damit das Volk entscheiden kann, ob es weiter eine Regierung will, die sich für das Allgemeinwohl und allgemeine Entwicklung und Partizipation einsetzt, wie es sich die Regierung von Evo Morales zur Richtschnur gemacht hat.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Juli 2007


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