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Boliviens Krise mündet in Krisengipfel

Südamerikas Staatschefs starten Vermittlung

Im Machtkampf in Bolivien hat die Armee den Befehl bekommen, den Gouverneur der oppositionellen Provinz Pando festzunehmen. *

Boliviens Nachbarn wollen an diesem Montag (15., Sept.) bei einem Krisengipfel ihre Vermittlung in der sich zuspitzenden politischen Krise in dem lateinamerikanischen Land anbieten. Das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Union der Südamerikanischen Nationen (Unasur) findet in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile statt.

Dem erst im Mai gegründeten Staatenbund Unasur gehören Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Ecuador, Guyana, Perú, Paraguay, Surinam, Uruguay und Venezuela an. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez und die meisten anderen Staatschefs kündigten ihre Teilnahme an. Ob Morales kommen würde, war zunächst unklar.

Chiles Vizeaußenminister Juan Pablo Lira äußerte sich am Samstag (13. Sept.) zugleich erleichtert über den Beginn eines Dialogs zwischen der Regierung des linksgerichteten bolivianischen Präsidenten Evo Morales und den von der Opposition dominierten Regionen. Die Fortsetzung dieser erst am Vortag begonnenen Gespräche stand jedoch gleich wieder infrage, weil die Regierung Morales die Festnahme des oppositionellen Präfekten der Unruheprovinz Pando, Leopoldo Fernández, anordnete. Der Politiker habe sich dem von Morales in der Urwaldregion verhängten Ausnahmezustand widersetzt, sagte der Minister im Präsidentenamt, Juan Ramón Quintana.

Außerdem trage Fernández die Schuld an einem Massaker an Indio-Bauern, die am Donnerstag auf dem Weg zu einer Demonstration von Gegnern des Präsidenten getötet worden waren. Innenminister Alfred Rada sagte, dabei seien mindestens 30 Kleinbauern getötet worden. Deswegen habe die Regierung die Verhaftung von Fernández angeordnet, der das Blutbad organisiert habe.

* Aus: Neues Deutschland, 15. September 2008

Bolivien am Scheideweg

Von Martin Ling **

Es kann keinen Zweifel geben: Der Versuch von Boliviens Präsident Evo Morales, die Neugründung seines Landes zu betreiben, ist demokratisch eindeutig legitimiert. Mehr als 67 Prozent gaben am 10. August beim Referendum ihrem Präsidenten erneut eindrucksvolle Rückendeckung – bei einer Wahlbeteiligung von 83 Prozent!

Morales' Basis weiß, dass viel auf dem Spiel steht. Schließlich soll die neue Verfassung die bisher Zukurzgekommenen stärken. Sie sollen teilhaben an den Profiten, die die Ressourcenausbeutung abwirft, und am bebaubaren Land in einem Maß, das eine würdige Existenz ermöglicht. Und neben der wirtschaftlichen Teilhabe sollen auch die politischen Rechte der Marginalisierten gestärkt werden. Ein Programm, das an Ambition alles übertrifft, was in Bolivien je anvisiert wurde.

Es umzusetzen, stößt auf massiven Widerstand der alten Eliten. Die oppositionellen Präfekten setzen auf eine Destabilisierung des Landes und eine Delegitimierung von Morales. Bisher sind die Versuche, Morales zu einer Überreaktion zu provozieren, jedoch fehlgeschlagen. Auf das jüngste Massaker an Kleinbauern wurde mit einem Haftbefehl gegen den dortigen Präfekten und der Verhängung des Ausnahmezustands reagiert – jedoch nicht mit der militärischen Keule. Morales hält sich an Recht und Gesetz, was die Opposition nicht von sich behaupten kann.

Dass sich selbst die USA-freundliche Regierung Kolumbiens auf die Seite von Morales stellt, spricht Bände. Bolivien steht an einer entscheidenden Weggabelung: Fortgang der demokratischen Revolution oder Rückfall in die neoliberale Barbarei.

** Aus: Neues Deutschland, 15. September 2008



Kriegszustand in Pando

Von André Scheer ***

Die bolivianischen Streitkräfte haben Cobija, die Hauptstadt des Departamentos Pando, besetzt. Wie der Rundfunksender Radio Erbol meldet, stießen die Regierungstruppen dabei in der Nacht zum Sonntag (Ortszeit) nur auf schwachen Widerstand bewaffneter Gruppen, die den Präfekten der Region, Leopoldo Fernández, unterstützen. Am Vortag hatte die Zentralregierung seine Verhaftung angekündigt.

Fernández wird für ein Massaker verantwortlich gemacht, bei dem am Donnerstag nahe der Ortschaft Porvenir jüngsten Angaben zufolge bis zu 30 Bauern ermordet worden waren. Veimar Becerra, ehemaliger Generalsekretär der verfassunggebenden Versammlung Boliviens, sprach sogar von bis zu 70 Opfern, die wie Tiere abgeschlachtet worden seien. Fernández sei offenbar zusammen mit den Mördern nach Brasilien geflüchtet. Die Täter hatten das Feuer auf eine friedliche Demonstration von etwa 1000 Menschen eröffnet, die gegen den Präfekten Leopoldo Fernández und die von dessen Politik ausgehende Gewalt protestieren wollten. Eine Überlebende sagte, die Mörder hätten auch Frauen und Kinder nicht verschont, sie selbst habe nur überlebt, weil sie sich hinter Felsen versteckt habe. Für Boliviens Innenminister Alfredo Rada handelt es sich um das schrecklichste Massaker an Bauern in der demokratischen Geschichte Boliviens. Er sagte, das Verbrechen dürfe nicht ungesühnt bleiben. Hauptverantwortlicher für den Mord sei Leopoldo Fernández, der von Medien bereits als »Schlächter von Porvenir« bezeichnet wird.

Als Reaktion auf das Massaker hatte die Regierung am Freitag den Kriegszustand über Pando verhängt. Dem Regierungsdekret zufolge sind in dem Departamento bis auf weiteres das Tragen von Waffen ebenso verboten wie Kundgebungen, Demonstrationen, Streiks und Straßenblockaden, »die den normalen Verlauf der Aktivitäten im Departamento Pando behindern«. Nachts sind Versammlungen von mehr als drei Menschen und der Autoverkehr untersagt, Versammlungen müssen vor Beginn von der nationalen Polizei genehmigt werden. Für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung sind die nationalen Streitkräfte zuständig. Leopoldo Fernández jedoch rief seine bewaffneten Stoßtrupps auf, dem »mißbräuchlichen Ausnahmezustand eines Prahlhanses« Widerstand zu leisten.

Die in Opposition zur sozialistischen Regierung des Präsidenten Evo Morales stehenden Präfekten der Departamentos Pando, Santa Cruz, Beni und Tarija – dem sogenannten Halbmond– widersetzen sich der Umverteilung des Reichtums des Landes zugunsten der ärmsten Schichten der Bevölkerung und streben den Sturz der sozialistischen Regierung an. Dabei stützen sich diese Präfekten auch auf rassistische Gruppierungen, die offen faschistische Symbole wie das Hakenkreuz zeigen. Mit der Forderung nach einer in der geltenden Verfassung nicht vorgesehenen Autonomie betreiben sie außerdem eine Politik, durch die ein Zerfall des Landes droht. Unterstützt werden sie dabei mehr oder weniger offen durch die US-Administration in Washington, deren Botschafter in La Paz, Philip Goldberg, deshalb in der vergangenen Woche zur Persona non grata erklärt und ausgewiesen wurde. Honduras hat unterdessen in dieser Sache seine Solidarität mit Bolivien erklärt. Die Regierung in Tegucigalpa verschob die Akkreditierung des US-Botschafters auf unbestimmte Zeit. Präsident Manuel Zelaya erklärte am Freitag, Honduras breche die Beziehungen zu den USA nicht ab, unterstütze aber Venezuela und Bolivien.

*** Aus: junge Welt, 15. September 2008


Putschversuch in Venezuela

Exmilitärs planten Staatsstreich. Parlament richtet Untersuchungskommission ein

Von Maxim Graubner ****


In Venezuela haben hochrangige Exmilitärs gemeinsam mit Kontaktmännern in der Armee offensichtlich die Ermordung von Präsident Hugo Chávez geplant. Am vergangenen Mittwoch abend hatte die venezolanische Fernsehsendung »La Hojilla« (»Die Rasierklinge«) entsprechende Tonaufnahmen ausgestrahlt. In den mitgeschnittenen Gesprächen unterhalten sich die Umstürzler über mögliche Vorgehensweisen zur Beseitigung von Chávez. Sie deuten an, daß sie für ihre Pläne Unterstützung von Soldaten und Piloten hätten, die nur auf Befehle warten würden.

»Eine mögliche Operation«, so die Verschwörer, sei es, die Präsidentenmaschine abzuschießen oder zu entführen. Außerdem ist zu hören: »Wir werden den Präsidentenpalast einnehmen und auch die Fernsehstationen«. Das vorrangige Ziel sei, Chávez auszuschalten. Zur Herkunft der brisanten Aufzeichnungen sagte Moderator Mario Silva nur, sie stammten aus »einer Quelle«. Es ist davon auszugehen, daß sich diese im Geheimdienstapparat der Regierung befindet.

Sechs höhere Militärs werden konkret verdächtigt zu den Verschwörern zu gehören. Darunter der General der Nationalgarde, Wilfredo Barroso, Vizeadmiral Carlos Millán Millán und Luftwaffengeneral Eduardo Báez Torrealba. Sie sollen auf den Aufnahmen zu hören sein. Torrealba ist bekannt als aktiver Unterstützer des mißglückten Putsches von 2002. Daneben habe es auch schon mehrere Festnahmen ziviler Personen gegeben, teilte Verteidigungsminister Gustavo Rangel Briceño mit. Sein Ministerium hatte umgehend Ermittlungen aufgenommen.

Präsident Chávez wandte sich am Tag nach der Veröffentlichung der Pläne an die Bevölkerung. Das »Imperium« solle nicht glauben, daß »sie noch einmal so etwas machen können wie in Chile«, sagte er am Donnerstag abend in Anspielung auf den Sturz von Salvador Allende vor 35 Jahren. »Sagt den Yankees und ihren Lakaien, daß sie dieses Land niemals mehr regieren werden, dieses Land ist frei«, fügte Chávez hinzu. Gerade hatte er den amerikanischen Botschafter zur unerwünschten Person erklärt und den venezolanischen Vertreter aus Wa­shington zurückgerufen.

»Wir verlangen nichts weiter als Respekt aus dem Norden«, betonte Chávez. Mit der Ausweisung des US-Botschafters wolle man seine Solidarität mit Bolivien zeigen, das seinen US-Botschafter wegen konspirativer Kontakte ebenfalls ausgewiesen hatte. Außerdem sind für die venezolanische Regierung die Spannungen in Bolivien und die Putschpläne in Venezuela zwei Seiten derselben Medaille. Erst Anfang des Monats hatte auch der neue Präsident Paraguays, Fernando Lugo, Putschpläne gegen seine Person veröffentlicht. Chávez warnte daher vor einer »neuen imperialistischen Offensive« in Lateinamerika.

Zuvor ließ der Präsident das Video mit den Telefonaufzeichnungen noch einmal auf allen Kanälen ausstrahlen, da viele kommerzielle Medien die Enthüllung bestenfalls als Randthema gebracht hatten. Die erstaunlich verhaltene Berichterstattung über die Aufdeckung der Putschpläne erinnert viele in Caracas an den Putschversuch vom 11. April 2002. Informa­tionsminister Andrés Izarra bestätigte dann entsprechende Befürchtungen: Es gebe Informationen darüber, daß Verantwortliche der Kommerzmedien in den Fall verwickelt seien, sagte er. Der Herausgeber der konservativen Tageszeitung El Nacional, Miguel Henrique Otero, reagierte prompt und nannte dies eine »Paranoia von Chávez«. Otero gehört dem berüchtigten Movimiento 2D an, in dem sich viele gescheiterte Putschisten von 2002 tummeln. Regierung und Parlament wollen nun eine mögliche Beteiligung von rechten Medienmachern wie Otero an der Ausarbeitung der Putschpläne prüfen.

**** Aus: junge Welt, 15. September 2008


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