Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Masterplan "dunkler Kräfte"?

Keine Lösung im Konflikt mit rebellierenden Polizisten in Bolivien

Von Benjamin Beutler *

Mit einem dringendem Aufruf zur Rückkehr an den Verhandlungstisch hat sich Boliviens Linksregierung an streikende Polizisten gewandt.

Präsidialamtsminister Carlos Romero forderte die in den wichtigsten Städten des Andenlandes auf die Barrikaden gegangenen Uniformierten dazu auf, den »Weg des Konsenses und des Dialogs« einzuschlagen. In der Nacht zum Dienstag wurden zum wiederholten Mal Gespräche mit Vertretern rebellierender Einheiten geführt. In den Räumlichkeiten des Innenministeriums in der Hauptstadt La Paz kamen 34 Funktionäre der Polizeigewerkschaft niederer Ränge (ASSCLASPOL) mit einer Regierungsabordnung zusammen, darunter Boliviens Finanzminister. Seit Donnerstag voriger Woche demonstrieren einfache Polizisten und Polizeikadetten landesweit für mehr Gehalt, die Rücknahme eines neuen Disziplinarrechts und Rentenzahlungen mit vollem Lohnausgleich.

Der Aufstand der Sicherheitskräfte sorgt im Land für angespannte Nervosität. Der wütend vorgetragene Protest werde von Teilen der Opposition für eigene Ziele missbraucht, warnte Präsident Evo Morales am Sonntag vor »Plänen der Rechten«. Mehrere Quellen bestätigten die Gegenwart von »Infiltrierten« unter den Polizisten. Das Staatsoberhaupt forderte, ein am Wochenende geschlossenes Schlichtungsabkommen zwischen ASSCLASPOL-Gewerkschaft und Regierung einzuhalten.

Die Mehrheit der aufständischen Polizisten, die ihre Dienststellen in La Paz, Cochabamba und Santa Cruz mit Waffengewalt besetzt halten, sowie deren mobilisierte Ehefrauen lehnen die Einigung jedoch wegen »Nichtbeteiligung der Basis« ab. Neben einem neuen Polizeimindestlohn von 2065 Bolivianos (rund 230 Euro) und mehr Gehalt sieht das Regierungsangebot die Annullierung der kritisierten Disziplinarrechtsnorm Nr. 101, die Einsetzung eines Polizei-Ombudsmannes, die Verdopplung von Zahlungen für Lebensmittelrationen auf jährlich 1300 Bolivianos (rund 145 Euro) sowie Studien über eine Reform der Pensionsansprüche vor.

Seit Tagen spitzt sich die Lage zu. Nahe dem Sitz des Präsidenten, dem Palacio Quemado, plünderten vermummte Polizisten am Freitag die Zentrale des Inlandsgeheimdienstes. Aus dem Gebäude, das auch die polizeiinterne Ermittlungsbehörde beherbergt, wurden Computer und Akten entwendet und zerstört.

Am Montag kam es auf dem Murillo-Platz vor dem Regierungspalast zu ersten Zusammenstößen zwischen Anhängern der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) und Meuternden. »Die Rechte sucht Tote, aber dafür werden wir uns nicht hergeben«, lehnte Morales bisher jegliches Eingreifen des Militärs ab.

Vizepräsident Álvaro García Linera sieht einen Masterplan »dunkler Kräfte«. Die kurz bevorstehende Ankunft eines Protestmarsches von Gegnern eines Straßenbauprojektes im Amazonas-Naturpark TIPNIS sei mit dem Polizeiaufstand koordiniert. »Es gibt Funkverkehr, der den Polizeikonflikt mit dem TIPNIS-Plan verbindet«, sagte der ehemalige Guerillero. »Ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, zehn Mal reden sie von Bomben, der Ermordung von Militärs, dem Verbrennen von Militärgerät, der Liquidierung von Minister Carlos Romero und einem Putsch gegen Evo«, schlug Linera Alarm. Polizei und TIPNIS-Demonstranten bestreiten die Vorwürfe. Der mächtige Gewerkschaftsdachverband COB erklärte unterdessen am Montag, seine Mitglieder stünden zur »Verteidigung der Demokratie« bereit.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 27. Juni 2012

Exzessive Maßnahme

Die Botschaft Boliviens in der BRD hat am Dienstag eine Stellungnahme zur aktuellen Lage im Andenstaat verbreitet: **

Die Ministerin für Transparenz und Korruptionsbekämpfung des Plurinationalen Staates Bolivien, Frau Dr. Nardi Suxo, mußte ihr Programm beim offiziellen Besuch in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland unterbrechen, um heute eine große Gruppe von Diplomaten und Vertretern verschiedener politischer Stiftungen über die Situation in dem Andenstaat zu informieren. Sie bat auch um internationale Unterstützung für die Regierung in Bolivien nach den Ereignissen der letzten Woche.

Seit vergangenen Donnerstag revoltieren in Bolivien mehrere hundert Unteroffiziere geringeren Ranges der Polizei in verschiedenen Städten; sie fordern in ihrem Protest u.a. gerechtere Löhne. Eine Forderung, die die Regierung grundsätzlich anerkennt und die seit 2006 von keiner anderen Regierung akzeptiert worden ist. Trotzdem und selbst, nachdem eine Übereinkunft unterschrieben wurde, mit der die Polizeirevolte beendet werden sollte, hat eine Gruppe von »Frauen von Polizisten« unten der Führung von Guadalupe Cárdenas 21 neue Punkten ins Gespräch gebracht.

Diese exzessive Maßnahme entlarvt die politischen Hintergründe. Wie Präsident Evo Morales sagte, gibt es den Versucht, die bolivianische Regierung zu destabilisieren. Diese kleine Gruppe sucht gewalttätige Auseinandersetzungen mit Mitgliedern von sozialen Bewegungen, die den politischen Prozeß im Lande unterstützen. »Heute wurden Genossen von der Polizei angegriffen, als sie die Plaza Murillo erreichen wollten«, berichtete die Ministerin Suxo.

Die Regierung von Präsident Evo Morales befürchtet, daß sich hinter der Gewalt und Gehorsamsverweigerung der Polizisten ein Putschversuch verbirgt, der von konservativen Sektoren der Opposition und einigen privaten Medien gefördert wird. (…)

** Aus: junge welt, Mittwoch, 27. Juni 2012




Zurück zur Bolivien-Seite

Zurück zur Homepage