"Bolivien ist polarisiert"
Interview mit dem Parlamentarier Iván Morales von der Linkspartei MAS
Evo Morales, Präsidentschaftskandidat der MAS, wird als aussichtsreichster Bewerber um das
höchste Staatsamt gehandelt. Wie beurteilen Sie wenige Wochen vor den Wahlen die politische
Stimmung in Bolivien?
Die Gesellschaft ist polarisiert. Das zeigt sich erstens darin, dass alle etablierten bürgerlichen
Parteien bei den Wahlen chancenlos sein werden. Zweitens gibt es eine Spaltung der Bevölkerung
bezüglich zweier höchst verschiedener Wahlprogramme. Das Programm der MAS bedeutet Wandel
und die Entstehung eines neuen Bolivien. Das Programm des Hoffnungsträgers der Rechten und
der Oligarchie, Jorge »Tuto« Quiroga, ist sehr viel konservativer. Es steht für die Beibehaltung des
neoliberalen Systems. Natürlich werden die Wahlergebnisse zeigen, welches Programm sich
durchsetzen wird. Die Umfragen zeigen zwar, dass die MAS mit Evo Morales leicht vorne liegt. Aber
auch Tuto Quiroga und seine Partei PODEMOS haben gute Umfragewerte.
Der Streit um die vorgezogenen Neuwahlen scheint nur vordergründig eine Auseinandersetzung um
Verfahrensmängel zu sein. Was steckt politisch dahinter?
Die schwachen traditionellen Parteien befürchten, dass sie bei vorgezogenen Neuwahlen nicht mehr
in den Kongress einziehen. Damit wäre ihr Mandat um ein Jahr kürzer als vorgesehen. Aus diesem
Grund versuchen sie nun alles, um Wahlen zu verhindern oder hinauszuzögern. Zum anderen
wollen sie die Menschen verunsichern und soziale Unruhe stiften. So sind bereits Gerüchte über
einen Staatsstreich laut geworden. Wir befinden uns in einer gefährlichen Situation.
Wird sich die Gesellschaft weiter polarisieren, wenn Evo Morales die Wahlen gewinnt?
Wir haben dagegen gute Vorarbeit geleistet. Wir haben es geschafft, unsere Wählerbasis –
Kleinbauern, indigene Gruppen, ehemalige Minenarbeiter – zu erweitern und Teile der urbanen
Mittelschicht und insbesondere auch Intellektuelle einzubinden. Alvaro García Linera, einer der
bekanntesten Soziologen Boliviens, ist beispielsweise unser Kandidat für die Vizepräsidentschaft.
Die Wahlen verdeutlichen, dass es in der bolivianischen Gesellschaft einen grundlegenden Konflikt
gibt. Worum geht es genau?
Bolivien befindet sich in einem historischen Moment. Es gibt im Unterschied zu allen
vorangegangenen Wahlen dieses Mal die Möglichkeit, den Neoliberalismus beizubehalten oder
abzuwählen. Für die zweite Möglichkeit steht die MAS. Sie bedeutet eine Neugründung der Republik
durch die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung.
Der neue Staat soll die soziale und kulturelle Vielfalt des Landes repräsentieren. Wirtschaftspolitisch
geht es uns vor allem um die Wiederaneignung unserer Naturvorkommen – fossile Brennstoffe,
Waldbestände und Bodenschätze. Sie sollen in erster Linien der bolivianischen Bevölkerung zugute
kommen. In diesem Sinne wollen wir den transnationalen Unternehmen ihr Monopol nehmen. Das
bedeutet nicht, dass wir vorhaben, ausländische Investoren aus dem Land zu werfen. Sie sollen
vielmehr in einer vernünftigen und für die Bevölkerung sozial verträglicheren Weise beteiligt werden.
* Aus: Neues Deutschland, 16. November 2005
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