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"Wir dürfen unser Geld nicht weiter den Multis in den Rachen werfen"

Julia D. Ramos Sánchez über den Kurswandel in der Politik unter Präsident Evo Morales

Julia D. Ramos Sánchez war in der ersten Amtszeit der Regierung Evo Morales 2006 - 2009 zeitweise Ministerin für ländliche Entwicklung und Landfragen. Die 37 Jahre alte Mutter ist hohe Funktionärin der sozialen Bewegung »Indigene Frauen und Bäuerinnen Bartolina Sisa«, die eng mit der Regierung des Landes zusammenarbeitet. Sie saß von 2005 bis 2010 für die Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Parlament. Mit ihr sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Benjamin Beutler.

ND: Boliviens Wirtschaft steht gut da. Trotz Krise konnte das Land im vergangenen Jahr Wachstumsraten verzeichnen, was selbst die Weltbank lobte. Der Staat setzt den Ressourcenreichtum mittels Sozialprogrammen zur Armutsbekämpfung ein. Warum ist dieser Kurswandel gegenüber früheren Regierungen so wichtig?

Julia D. Ramos Sánchez: Ich verstehe den Staat als Vater. Für alle Bürger muss er Sorge tragen: Dass sie gut essen, gut leben, dass sie glücklich sind wie in einer glücklichen Familie. Wenn es Streit gibt, weil der eine zu viel hat, alles für sich behalten will und der andere Hunger leidet, dann hängt der Haussegen schief. Könnten wir die Ungleichheit beseitigen und dieses Verständnis mit anderen teilen, dann wäre die soziale Situation in Bolivien sicher eine andere.

Umverteilen nach unten bedarf ausreichender Staatseinnahmen. Was hat sich seit dem Amtsantritt de Regierung Morales 2006 in der Wirtschaftspolitik geändert?

In der Wirtschaft streben wir vor allem die Stärkung des Binnenmarktes an. Bei der Nahrungsmittelproduktion etwa müssen wir erst an unsere eigene Bevölkerung denken, und erst dann an den Export. Es gibt ländliche Gebiete in denen Hunger gelitten wird, die aber Quinoa (Anmerk. d. Red.: getreideähnliches Hauptnahrungsmittel in den Anden) für den Export anbauen. Nur für den Export zu produzieren, das ist nicht richtig. Auf der anderen Seite sehe ich auf jedem Tisch in Bolivien importierte Coca Cola. Die Städte sind voller Werbung. Dabei ist Coca Cola ungesund und sie schadet unserer Wirtschaft. Wir haben doch eigene Getränke, die genauso gut schmecken. In meiner Gewerkschaft Bartolina Sisa haben wir abgestimmt und entschlossen, auf unseren Versammlungen keine Coca Cola mehr zu trinken. Ein neustes von der Regierung unterstütztes Projekt ist darum die Einführung einer »Cola Colla«, ein nationales Erfrischungsgetränk aus der Koka-Pflanze. Mit alten Konsumgewohnheiten müssen wir einfach brechen und unser Geld nicht weiter den transnationalen Multis in den Rachen werfen. Das Eigene wertschätzen, das Eigene konsumieren, bolivianische Produkte kaufen, darum geht es!

Was wurde bisher getan, um die entlegenen Regionen im Tiefland zu entwickeln und zu integrieren, an der Grenze zu Brasilien beispielsweise?

Hier haben wir vor allem das Problem, dass große Konzerne ungehindert auf bolivianisches Gebiet eindringen, ohne Kontrolle Tropenhölzer in großen Mengen schlagen und außer Landes bringen. Damit dieses Gebiet nicht weiter herrenloses Niemandsland ist, in das jeder nach Belieben eindringen kann, bemühen wir uns um eine allmähliche Besiedlung der Grenzregion.

Mit welchen Mitteln?

Im Departamento Pando wird Grund und Boden in Staatsbesitz derzeit landlosen Siedlern angeboten, viele von ihnen zurückgekehrte Migranten aus Argentinien. 50 Hektar für Feldwirtschaft, 70 Hektar für Viehwirtschaft, 100 Hektar für die in der Gegend typischen Kastanienplantagen. Einer Ansiedlung von rund 50 Familien wird gemeinschaftlich Land zugeteilt, jeder hat gleich viel und hat dieselben Rechte. Wer einmal einen Landtitel zugesprochen bekommen hat, kann diesen auch nicht einfach verkaufen. Damit soll das Gleichgewicht nicht gestört werden. Für den Start einer Ansiedlung hilft der Staat mit dem Bau von Straßen und Infrastruktur, Saatgut, Beratung, Landmaschinen. Der Anfang ist für die Siedler sicherlich nicht einfach, die einfachen Lebensbedingungen sind sehr hart.

Und an wen verkaufen die Siedler ihre Erzeugnisse?

Was wir hier planen ist eine staatliche Lebensmittelkette auf lokaler und regionaler Ebene. Das Verhältnis von Produzent und Konsument soll so auf eine gänzlich neue Grundlage gestellt werden. Sie sollen zusammenarbeiten, nicht gegeneinander. Mit Hilfe moderner Kommunikation, an entlegene Gemeinden verteilen wir aktuell Mobiltelefone, soll im ländlichen Raum die Koordination untereinander verbessert werden. Der Bauer braucht nicht den weiten Weg zu Markt machen. Stattdessen bekommt er einen Telefonanruf: »Bring mir zwei Kisten Trauben ins Dorf«, und er liefert direkt. Das kann Wege, Zeit und Geld sparen.

Nun waren Sie Ministerin, sind Indigene und Frau. Stoßen Sie damit nicht auf viel Widerstand?

Ja, sicher. Denn noch immer gibt es viel Rassismus. Nur sind die Rassisten seit unserem letzten Wahlerfolg stiller geworden. In den Tieflanddepartamentos Santa Cruz, Beni, Pando und in Tarija, von wo ich komme, wird immer noch auf die »Indios« oder »collas« (Anmerk. d. Red.: abfällige gebrauchte Bezeichnung für indigene Hochländer) geschimpft. Doch langsam findet auch hier ein Wandel statt, vor allem Akademiker öffnen sich zunehmend. Rassismus hinter vorgehaltener Hand aber gibt es weiter.

* Aus: Neues Deutschland, 2. März 2010


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