Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Wir mussten 180 Jahre warten, um Bolivien neu zu gründen"

Evo Morales und die Bewegung zum Sozialismus nehmen die nächste Etappe in Angriff / Die Bewegung zum Sozialismus forciert den Prozess des Wandels im Andenstaat

Von Benjamin Beutler *

Pompös und bunt wie nie feierte die Regierung der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) den Beginn der neuen Legislaturperiode. In ihrer zweiten Amtszeit wollen die MAS und Präsident Evo Morales die Neugründung Boliviens als plurinationalen Staat vorantreiben.

72 Kilometer von La Paz entfernt im Andenhochland liegt das Ruinenensemble von Tiwanaku, einstiges Machtzentrum der untergegangenen Zivilisation rund um den Titicaca-See. »Brüder und Schwestern, heute habe ich die Ehre, ihnen mitzuteilen, dass die Zeiten eines bettelnden und unwürdigen Boliviens vorbei sind«, so der Präsident Evo Morales feierlich. Bei den Wahlen vor zwei Monaten war er mit 63 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden. Am Freitag begann die neue Regierungszeit bis 2015. »Es gibt einen Präsidenten und zwei Staaten«, erklärte der erste indigene Staatschef Südamerikas einen Tag zuvor bei einer traditionell-andinen Amtseinführung. »Einen kolonialen Staat, der jetzt geht und einen plurinationalen Staat, der jetzt kommt«, versprach Morales die »Abschaffung des Neoliberalismus«.

Wie schon nach seinem »historischen« Wahlsieg im Dezember 2005 (53 Prozent) wurde die symbolträchtige Ruinenstadt Tiwanaku zum Schauplatz einer religiösen Zeremonie, angeleitet von Aymara-Geistlichen. In eine weiße Tunika aus Lamafell gekleidet, Zeichen der Kommunikation, bat »Don Evo« bei der Heiligen Mutter Erde, der Pachamama und dem Sonnengott Inti um Kraft für die kommenden fünf Jahre. In Quechua, Aymara und Spanisch wandte er sich an die gut 40 000 geladenen Staatsgäste und Vertreter sozialer Bewegungen aus aller Welt, darunter Spaniens König Juan Carlos. »Die Völker der Welt immer aufrecht, nie auf den Knien gegenüber dem Kapitalismus«, so der frühere Kokabauer, selbst aus einfachsten Verhältnissen stammend.

Die Erblast der spanischen Kolonialherrschaft lastet bis heute schwer. Rassismus gegen alles Indigene ist an der Tagesordnung. »Wir mussten 180 Jahre warten, um Bolivien neu zu gründen, in dem alle originären Völker die gleichen Rechte haben«, spielte Morales auf die neue Magna Charta Boliviens an. Mit friedlichen Demonstrationen kämpften diese seit 1994 für Gleichberechtigung und kulturelle Selbstbestimmung. Im Mai 2006 machte Morales ein Wahlversprechen wahr, der Verfassungskonvent wurde gewählt. Ende 2008 war die neue Verfassung fertig, im Januar 2009 wurde sie per Referendum angenommen. Sie will Schluss machen mit der Kluft zwischen Arm und Reich, Oben und Unten, hellhäutig und dunkel.

Momente für einen Wandel gab es viele, erinnerte Morales. Weder der Kampf des Befreiers Simón Bolívar gegen die spanische Krone brachte den »schmutzigen Indios« Besserung, die 80 Prozent der Bevölkerung stellen. Weder die Unabhängigkeitserklärung noch die Gründung der Republik 1825 beseitigten den »diskriminierenden Staat«. In dem Palacio Quemado war lediglich die europäisch-stämmige Mestizoschicht eingezogen. Und avancierte zu den neuen Herrschern der bronzehäutigen Knechte in den Silberminen der einst reichsten Stadt der Welt. Das über Argentiniens Häfen verschiffte Silber begründete Europas anhaltenden Reichtum und Wohlstand. Bolivien brachte es Misere und Tod. In den Schächten von Potosí kamen hunderttausende zwangsrekrutierter Bergleute um. Die Elite von La Paz wurde immer reicher, verscherbelte die Bodenschätze bereitwillig ins Ausland.

Das ärmste Land Südamerikas blutete aus, die einfachen Leute mussten irgendwie über den Tag kommen. Unter Morales setzt das Andenland auf Stärkung des Binnenmarktes. Eigener Konsum und faire Preise für den Export von Gas sollen beim Aufbau einer nationalen Industrie helfen. Bisher mit Erfolg. Gas und Öl wurde unter staatliche Kontrolle gebracht. Mit den Energiemultis wurden neue Förderverträge ausgehandelt, sie müssen nun rund drei Mal soviele Abgaben leisten wie bisher. Die Staatseinnahmen kletterten in den letzten fünf Jahren stetig an und Bolivien fuhr bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise Haushaltsüberschüsse ein. In Sozialprogrammen wie Muttergeld, Rente für alle Alten und Schulgeld wird nach unten verteilt. Laut Internationalem Währungsfonds erreichte das Andenland 2009 trotz globaler Krise ein leichtes Wachstum – Spitze in ganz Südamerika.

Die Mehrheit in Bolivien hofft darum weiter auf den von der MAS erklärten »Prozess des Wandels«. Am Freitag (22. Jan.) wurde mit einem Volksfest im Hauptstadtstadion »Hernan Siles« die »demokratisch-kulturelle Revolution« gefeiert. Auf den Straßen schwenkten Anwohner und Besucher bunt-gescheckte Whipalas. Neben dem alten Wappen mit Trikolore und Lama ist die Indigenen-Fahne neues Hoheitssymbol auf Briefmarken, Geldscheinen und Staatsempfängen. Nur wenige Straßen weiter stellte sich das neue Kabinett den unzähligen Fotografen der internationalen Presse. Auch der Kongress (Parlament und Senat) begann am Freitag formal die nächste Legislaturperiode. Hier hat die MAS in Zukunft freie Hand, in beiden Kammern haben die Sozialisten die Zweidrittelmehrheit. Viel Verantwortung für Morales. »Schnell sind die vier Jahre vergangen. Jahre permanenter Arbeit, bei der wir uns von dem kosmischen Gesetz unserer Vorfahren haben leiten lassen: »Ama Sua, Ama Quella, Ama Llulla« «. Sei kein Dieb, sei kein Lügner, sei nicht faul.

Hintergrund - Die Zukunft der Politik ist weiblich

Frauen in Bolivien haben in der Politik mehr mitzureden als früher. Seit den Wahlen im Dezember sind 28 Prozent Prozent der Abgeordneten und Senatoren weiblich. Die Parlamentarierinnen kämpfen nun dafür, dass mindestens die Hälfte aller Posten in Regierung, Justiz und Legislative mit Frauen besetzt wird. Wie weit es Politikerinnen in dem südamerikanischen Land schon gebracht haben, zeigt die kürzliche Ernennung von Ana María Romero zur ersten Senatspräsidentin in der Geschichte Boliviens. Ihre Karriere ist ganz im Sinne von Morales, der bei der Ämterverteilung in der öffentlichen Verwaltung auf eine Gleichbehandlung der Geschlechter pocht. Morales will den Andenstaat grundlegend reformieren. Seit fast einem Jahr gilt neue Verfassung, die den bisherigen Kongress durch eine ebenfalls aus zwei Kammern bestehende »Plurinationale Versammlung« ersetzt, in der mehr als doppelt so viele Frauen vertreten sind wie bisher.

Noch bevor sich die neue Volksvertretung zu ihrer konstituierenden Sitzung traf, appellierten Vertreterinnen von mehr als 200 Frauengruppen an die 46 weiblichen Parlamentarier, sich verstärkt für die Gleichstellung der Geschlechter einzusetzen. Die Nichtregierungsorganisationen haben mit Unterstützung von Gewerkschaften ein Paket mit Gesetzesinitiativen ausgearbeitet. Seit Morales' Amtsantritt 2006 hat die Bewegung »Frauen in der Geschichte« Vorschläge gesammelt, um die weibliche Präsenz in staatlichen Institutionen zu erhöhen. Die Aktivistinnen setzten unter anderem durch, dass in das Wahlgesetz ein Gleichstellungsparagraf aufgenommen wurde. Allerdings seien noch nicht alle Ziele erreicht, meinte die stellvertretende Abgeordnete für den Bezirk La Paz, Elizabeth Salguero, im Interview mit IPS. Vor allem Abgeordnete der konservativen Opposition verträten zumeist eine patriarchalische Haltung. IPS



* Aus: Neues Deutschland, 23. Januar 2010


Zurück zur Bolivien-Seite

Zurück zur Homepage