Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bolivien: Evo Morales als Präsident vereidigt

An den Regierungswechsel sind große Erwartungen geknüpft - Soziale Bewegungen in Wartestellung

Am 22. Januar 2006 wurde Evo Morales als Präsident Boliviens vereidigt. Ein Ereignis, das nicht nur das Land verändern kann, sondern auf den ganzen Kontinent ausstrahlen wird. Für die sozialen Bewegungen könnten sich die Bedingungen verbessern.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die sich mit der Amtseinführung von Morales befassen.



Regime change in Bolivien

Doppelter Präsident: Evo Morales wurde gleich zweimal in das höchste Staatsamt eingeführt – von den Nachkommen der Ureinwohner und von den Repräsentanten des Landes

Von Harald Neuber*

Was hatte man nicht alles getan, um diesen Mann an der Spitze des Staates zu verhindern. Seit Evo Morales als Anführer der Kokabauern in der bolivianischen Politik aufstieg, folgte eine Attacke der nächsten. Nicht nur im eigenen Land, sondern vor allem auch in Washington verfolgte man den Aufstieg des Indiopolitikers mit Argwohn. Ein »Faktor der Instabilität« sei Morales, hieß es von dort, seiner Bewegung zum Sozialismus wurde die aktive Förderung des »Drogenterrorismus« vorgehalten. Für die USA war das nach Nazis, Sowjets und Kubanern der jüngste Vorwand, demokratische Strukturen in Lateinamerika zu zerschlagen und durch eigene oder ferngesteuerte Militärregimes zu ersetzen.

Einfluß gewann Morales, als er seit den achtziger Jahren zum Chef aller fünf Kokabauernverbände aufstieg. Mit 70 Prozent der Stimmen in seinem Wahlbezirk gewann der Sozialist 1997 einen Sitz im Parlament. Seitdem ließ er keine Gelegenheit aus, mit Protesten und zum Teil wochenlangen Straßenblockaden die Regierungen des früheren Diktators Hugo Banzer (1997–2001) und dessen Nachfolgers Jorge Quiroga (2001– 2002) herauszufordern. Offenbar auf Druck der USA wurde Morales das Parlamentsmandat im Januar 2002 wegen »Anstachelung zur Gewalt« wieder aberkannt. Die Entscheidung wurde wenig später für verfassungswidrig erklärt. Bei der Präsidentschaftswahl im Juni 2002 dann gelang Morales bereits der Einzug in die Stichwahl; er unterlag aber seinem Widersacher Gonzalo Sánchez de Lozada. Massenproteste gegen die Privatisierung der staatlichen Erdgasunternehmen brachten Lozada jedoch ebenso wie dessen Nachfolger Mesa zu Fall und Morales den Sieg.

Gut einen Monat nach seiner Wahl zum Präsidenten von Bolivien legte er am Sonntag den Amtseid ab. Am Tag zuvor war er bei einer festlichen Zeremonie in Tiwanaku nahe des Titicacasees als Chef der Andenindianer eingesetzt worden. Der 46jährige Aymari trug einen roten Poncho, als er in der heiligen Stadt der Ureinwohner zwischen Ruinen aus präkolumbianischer das Ehrenamt übernahm, das keiner seiner 65 Vorgänger unter den Staatschefs jemals innehatte.

An der Amtseinführung in La Paz am Sonntag nahmen Staats- und Regierungschefs aus ganz Lateinamerika teil. Unter den Gästen befand sich auch der scheidende chilenische Präsident Ricardo Lagos. Beachtlich war das, weil beide Staaten, Bolivien und Chile, seit 1978 keine diplomatischen Beziehungen unterhalten. Ursache des Streits ist der sogenannte Salpeterkrieg (1879–1884), bei dem Bolivien seinen Zugang zum Meer an Chile verlor. Morales kündigte in der Beziehung beider Staaten einen »historischen Neuanfang« an. Es wird nicht der einzige sein.

* Aus: junge Welt, 23. Januar 2006


Bolivien: Nicht nur La Paz freut sich auf Evo

Soziale Bewegungen wollen sich dennoch nicht vereinnahmen lassen

Von Gerhard Dilger, La Paz*

Gut einen Monat nach seiner Wahl zum Präsidenten von Bolivien legt Evo Morales am Sonntag den Amtseid ab. Damit führt 180 Jahre nach der Staatsgründung erstmals offiziell ein indianischer Ureinwohner den Andenstaat.

Es ist kein gewöhnlicher Regierungswechsel: Wenn an diesem Sonntag Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) das Präsidentenamt in Bolivien antritt, werden ihm nicht nur die meisten Landsleute, sondern auch Millionen Lateinamerikaner Glück wünschen. Ob es dem 46- jährigen Aymara-Indianer tatsächlich gelingen kann, während seiner Amtszeit eine Zäsur in der Politik auf dem Subkontinent zu markieren, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Morales’ überraschend hoher Wahlsieg im Dezember jedenfalls zeigt, dass die Bevölkerung vehement eine Wende zu einer sozialeren Politik wünscht – ähnlich wie in Chile, wo die Sozialdemokratin Michelle Bachelet die Stichwahl klar für sich entschied. Denn so sehr sich die beiden Andenstaaten in der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung, in ihrer jüngeren Geschichte und in ihrer politischen Kultur unterscheiden – eines haben sie mit allen Ländern des Subkontinents gemeinsam: Die neoliberale Politik der letzten 20 Jahre hat nur einer Minderheit Wohlstand beschert. Die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt hingegen unverändert tief.

Nach UNO-Angaben leben 222 Millionen aller Lateinamerikaner in Armut, 40 Prozent der Bevölkerung. Daher ist die Linke schon seit Jahren auf dem Vormarsch: Hugo Chávez regiert Venezuela seit 1999. Der Peronist Néstor Kirchner kam 2002 in Argentinien an die Regierung, Luiz Inácio Lula da Silva von der brasilianischen Arbeiterpartei Anfang 2003. Die uruguayische Linksregierung unter Tabaré Vázquez nähert sich ihrem ersten Amtsjubiläum.

Doch diese Kräfte lassen sich nicht über einen Kamm scheren: Chile, aber auch Brasilien und Uruguay halten an einem orthodox-liberalen Wirtschaftskurs fest und versuchen die Armut vor allem durch eine Ausweitung von Sozialprogrammen abzubauen. »Mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik macht sich Lula zur Geisel des Finanzkapitals«, meint João Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST. Doch anders als etwa in Argentinien oder Bolivien sind die Basisbewegungen in Brasilien nie ein Machtfaktor geworden, der die Ausrichtung der Regierungspolitik maßgeblich beeinflussen oder gar Präsidenten stürzen könnte. Lula nimmt eine Agrarreform genauso wenig in Angriff wie seine Vorgänger und fördert das exportorientierte Agrobusiness viel mehr als die Kleinbauern. Die MST hält mit Landbesetzungen und Demonstrationen dagegen – doch ein Bruch mit der Regierung stand nie zur Debatte. Denn die Landlosen wissen genau, dass es bei einer Niederlage Lulas im Oktober 2006 mit dem Wohlwollen von Teilen der Regierung vorbei sein dürfte, ebenso mit der Finanzierung vieler Sozialprojekte.

In Argentinien wird der Linksperonist Néstor Kirchner von der Hälfte der rund 200 Arbeitslosengruppen unterstützt, den Piqueteros. Ehemals führende Aktivisten sind mittlerweile in den Regierungsapparat gewechselt, und zuweilen stellt sich der Staatschef selbst an die Spitze der Bewegung: Nachdem Shell im März 2005 die Benzinpreise spürbar erhöht hatte, rief Kirchner zu einem Boykott des Multis auf. Peronistische Piqueteros blockierten Tankstellen, Shell gab nach.

In Venezuela müssen sich die eher schwachen Basisbewegungen noch vehementer vor der drohenden Vereinnahmung von oben wehren. Daher wird die Spannung zwischen Bewunderung und Skepsis, die das Verhältnis der meisten Linken für Präsident Hugo Chávez bestimmt, auch das am Dienstag beginnende amerikanische Welt-sozialforum in Caracas prägen.

Besonders stark sind die sozialen Bewegungen in Bolivien. 2003 und 2005 hatten die indigen geprägten Volksbewegungen zwei Präsidenten zum Rücktritt gezwungen – und zwar weitgehend unabhängig von Evo Morales. Stellvertretend für diese Dynamik steht das Engagement der Wasser- Aktivisten aus Cochabamba, die vorgestern einen bemerkenswerten Triumph feiern konnten: Die Multis Bechtel (USA) und Abengoa (Spanien) verzichten knapp sechs Jahre nach dem Scheitern der Wasserprivatisierung auf ihre Entschädigungsklage gegen Bolivien vor dem Weltbank- Schiedsgericht.

Die Sprecher der Basisgruppen wollen ihre kritische Unterstützung für Morales nicht als Freibrief verstanden wissen. »In Lateinamerika bleibt der Staatsapparat auf die Interessen des Kapitals ausgerichtet«, analysiert Oscar Olivera von der Wasser-Koordination aus Cochabamba. »Es ist ein vertikales, autoritäres Modell, das keinen Raum für autonome Initiativen lässt.« In Bezug auf den neuen Präsidenten ist er illusionslos: »Morales wird keinen Bruch mit diesen neokolonialen Strukturen vollziehen. Daher müssen ihn die sozialen Bewegungen zu echten Veränderungen zwingen.«

* Aus: Neues Deutschland, 21. Januar 2006


Zurück zur Bolivien-Seite

Zur Lateinamerika-Seite

Zurück zur Homepage