Bolivien will endlich wieder Zugang zum Meer
Chilenische Abgeordnete befürworten Verhandlungen
Von Benjamin Beutler, Cochabamba *
Äußerungen über einen bevorstehenden Zugang Boliviens zum Pazifik über den Nachbarstaat Chile haben in der Region für Aufsehen gesorgt.
Die Regierung des südamerikanischen Andenstaates Bolivien steht nach Aussagen ihres Außenministers David Choquehuanca »kurz vor einer Einigung« mit dem Nachbarn Chile. Seit dem Amtsantritt von Präsident Evo Morales und seiner Regierung im Januar 2006 haben sich die diplomatischen Beziehungen zum historischen »Erzfeind« erheblich verbessert. Ausdruck dafür ist unter anderem die Annäherung im Streit um einen Zugang zur chilenischen Pazifikküste samt Hafen. So erklärte Morales jüngst anlässlich des 182. Jahrestages der Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft: »Bolivien ist das Herz Südamerikas, wir haben keinen Zugang zum Meer, demnächst aber werden wir ihn wieder haben.« Damit machte er Millionen Bolivianern Hoffnung auf Tilgung eines kollektiven Traumas, das bis heute nicht bewältigt ist. So begeht das Land jährlich den »Tag des Meeres«, um seiner über einhundert Jahre währenden maritimen Forderung Nachdruck zu verleihen.
Heute ist Bolivien neben Paraguay das einzige südamerikanische Land ohne direkten Meereszugang. Nach seiner Unabhängigkeitserklärung 1825 verlor es durch verschiedene kriegerische und diplomatische Konflikte mehr als die Hälfte seines ursprünglichen Territoriums. So beträgt seine Oberfläche derzeit rund 1,1 Millionen Quadratkilometer – Bolivien ist das fünftgrößte Land Südamerikas. Damit hat es eine größere Ausdehnung als jeder Staat Europas, mit Ausnahme Russlands. Den Zugang zum Pazifik, dem »bolivianischen Küstengebiet« samt der wirtschaftlich bedeutenden Hafenstadt Antofagasta, musste man nach dem 1883 verloren gegangenen Salpeter-Krieg mit Chile aufgeben. Ein 1904 unterzeichnetes Friedensabkommen zwischen beiden Nationen gilt bis heute als juristische Grundlage für den schmerzhaften Gebietsverlust. Darin musste Bolivien den Verzicht auf jeglichen Souveränitätsanspruch für die ehemals bolivianische Pazifikküste anerkennen. Bolivien versuchte seither immer wieder, eine Lösung in seinem Interesse zu erwirken.
In der Zeit der Militärdiktaturen in Chile (Augusto Pinochet) und in Bolivien (Húgo Banzer) 1978 wäre es auch fast soweit gekommen. Chile schlug dem Nachbarn einen Korridor zur Hafenstadt Arica vor, der vor dem Salpeter-Krieg zum ebenfalls unterlegenen Peru gehörte. Peru bestand auf Grundlage des Vertrages von Lima aus dem Jahr 1929 jedoch auf einer trilateralen Teilung, was Chile ablehnte. Bolivien ging leer aus, was Banzer wiederum dazu veranlasste, jeden Kontakt mit Chile abzubrechen. Bis vor kurzem wurde nur auf konsularischer Ebene miteinander verhandelt.
Erst der Besuch von Morales zum Amtsantritt der chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet im März 2006 brachte frischen Wind in die Beziehungen. Man beschloss ein 13-Punkte-Programm, in das neben wirtschaftlichen und kulturellen Fragen auch das Meeresthema aufgenommen wurde. In Chile ist das allerdings eine riskante Angelegenheit für Politiker. Denn die Bevölkerung steht den bolivianischen Wünschen laut Umfragen skeptisch gegenüber. Knapp 70 Prozent sind gegen ein Abtreten territorialer Souveränität an das Nachbarland. Trotzdem plädierten Anfang der Woche 17 Abgeordnete des Parlaments für eine »unmittelbare Behandlung« der Frage. Es gehe »um eine Forderung, die uns gerecht erscheint«, erklärten sie. »Bolivien verlangt keine Souveränität, es kann ein Korridor sein, eine Straße. Wie wollen dem bolivianischen Volk helfen«, erklärt René Alinco von der sozialdemokratischen Partei für die Demokratie (PPD). Es gelte für »die Einheit Südamerikas zu kämpfen«. Sicher »werden uns einige als Vaterlandsverräter bezeichnen«, so Alinco. »Doch wir wollen den Prozess beschleunigen, so dass Bolivien einen Meereszugang erhält, damit es sich entwickeln und die Armut bekämpfen kann.« Eine Entscheidung des Parlaments zum weiteren Vorgehen steht bevor.
* Aus: Neues Deutschland, 18. August 2007
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