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Bolivien dekolonisiert seine Justiz

Eine Gesetzesnovelle stärkt die traditionelle Rechtsprechung indigener Gemeinden

Von Benjamin Beutler *

Bolivien stärkt die indigene Rechtssprechung innerhalb seines Justizsystems. Nur die von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) dominierte Abgeordnetenkammer muss dem Senatsvorschlag noch zustimmen.

Die drei Pfeiler der »Neugründung Boliviens« stehen längst: Landreform, Nationalisierung der Rohstoffe und die neue Verfassung. Der Prozess der Neugründung hält freilich an. So verspricht die Verfassung die »Dekolonisierung der Justiz«, Artikel 179 stellt die indigene Rechtsprechung der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit gleich. Um diesen Grundsatz mit Inhalt zu füllen, tagte vier Monate lang eine Expertenkommission des Senats, die sich aus Vertretern von Parteien, sozialen Bewegungen und Indígenen-Verbände zusammensetzte. Sie beriet über die juristischen Feinheiten zur »indigenen, originären und bäuerlichen Justiz«.

Am vergangenen Mittwoch war es soweit. »Das Gesetz kann an die Abgeordnetenkammer weitergereicht werden«, gab Senatspräsident René Martínez (MAS) bekannt. Die Rede war vom »Gesetz zur Abgrenzung der Gerichtsbarkeit«.

Vorgesehen ist eine Vierteilung der Zuständigkeiten. Als Hüter der Verfassung wacht weiterhin das Oberste Verfassungsgericht über die Einhaltung des Grundgesetzes des »einheitlichen, plurinationalen, kommunitären, sozialen Rechtsstaates«. Die Bezeichnung »Republik« hat das multiethnische Land abgelegt, denn die Unabhängigkeit von Spanien im Jahre 1825 hatte nur einer weißen Elite der Minderheit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gebracht. Die als Bremser von »Fortschritt und Moderne« abgestempelten »Indios« blieben wie zu Kolonialzeiten billige Arbeitskräfte, die trotz ihrer Mehrheit an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.

Die bürgerliche »europäische« Rechtssprechung wird weiterhin vom Obersten Gerichtshof, den Gerichten der Departamentos und untergeordneten Gerichten ausgeübt. Eigenständig bleibt auch die Gerichtsbarkeit für Streitfälle in Landwirtschaft und Umweltfragen. Unklar war bisher lediglich, welchen Rechtsbereich die neu geschaffene indigene Gerichtsbarkeit abdecken würde.

Böse Zungen hatten behauptet, die erstmals in der Geschichte eines lateinamerikanischen Landes vom Volk gewählte Verfassunggebende Versammlung hätte diese für die Rechtssicherheit unabdingbare Abgrenzung vergessen oder schlicht übergangen. Obwohl Artikel 179 explizit den Auftrag enthielt, für die Schaffung »genau bestimmter Gerichtsbezirke« zu sorgen. Auch über die Frage der Kompetenzen für Kapitalverbrechen wie Mord, für Vergewaltigung oder Viehdiebstahl saß die Senatskommission zu Rate.

In der Zwischenzeit hatten Kritiker der Linksregierung drohend die »Legalisierung von Lynchjustiz«, den »Rückfall ins Mittelalter« und die Einführung einer »Indio-Scharia« an die Wand gemalt. Kommentator Guillermo Mariaca Iturri unterstellte gar einen direkten Zusammenhang zwischen kommunitärer Rechtsprechung und Fällen von Lynchjustiz. »Die Verbindung von Machtmissbrauch des Staates mit der politischen Lynchjustiz durch einige soziale Bewegungen macht die Tyrannei möglich«, wetterte der Jesuitenpater und bezichtigte die Regierung der »ideologischen Täterschaft« zur Durchsetzung ihres »Machtprojekts« durch Anstiftung des »Pöbels« zum Mord.

Die jetzt auf den Weg gebrachte Gesetzesnovelle formuliert es jedoch ganz klar: Auch im heutigen Bolivien werden die Menschenrechte garantiert. Lynchmorde und Todesstrafe sind auch im indigenen Gesetz verboten, sie verstoßen gegen das fundamentale Grundrecht, das »Recht des Lebens«.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Dezember 2010


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