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"Frau im Rock" an der Justizspitze

Bolivien reformiert Rechtssystem / Indigene wird Oberste Richterin

Von Benjamin Beutler *

Nach der Verabschiedung der Magna Charta zur legislativen »Neugründung Boliviens« im Januar 2009 macht sich die Linksregierung um Präsident Evo Morales nun an die Reform des Justizapparats.

Morales, der im vergangenen Dezember mit über 60 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit bis 2014 wiedergewählt wurde, erklärte die »Dekolonisierung der Justiz« jüngst zur Chefsache. »Es muss Schluss sein mit den undurchsichtigen Praktiken der bolivianischen Rechtsprechung, von der die Menschen auf der Straße immer noch sagen, das Recht sei für jene da, die das Geld haben«, sagte der Staatschef anlässlich der kürzlich erfolgten Ernennung von 17 Übergangsrichtern. Diese füllen jene Lücke, die der Massenrücktritt konservativer Richter am Verfassungsgericht, am Obersten Gericht und am Obersten Verwaltungsgericht hinterlassen hatte. Seitdem stehen diese Instanzen still. Mit dem politischen Manöver der eng mit der alten Machtelite verbundenen Juristen sollte der von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) proklamierte »Prozess des Wandels« torpediert werden. Allein beim Verfassungsgericht liegen 5640 Verfahren auf Halde. Ende des Jahres werden alle Magistrate in Bolivien demokratisch per Stimmzettel gewählt - ein Novum in Lateinamerika.

Bei der Opposition sorgte die Richterernennung per Präsidialdekret für scharfen Protest. »Der Rechtsstaat befindet sich auf der Intensivstation«, kritisiert der Tieflandpolitiker Carlos Dabdoub aus Santa Cruz. Die parlamentarischen Einflussmöglichkeiten der Rechten sind seit den Dezember-Wahlen auf ein Minimum geschrumpft. Die MAS erreichte in Abgeordnetenkammer und Senat eine unangreifbare Zweidrittelmehrheit, die Morales mit einem Gesetz grünes Licht für die Richternennung gaben. Der ehemalige Vizepräsident Víctor Hugo Cárdenas sieht sein Land darum einer »finsteren Zukunft« entgegensteuern. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) forderte er zum Eingreifen auf, die auch von Bolivien anerkannte Demokratische Charta sei in Gefahr.

Die Angst der oberen Zehntausend ist verständlich, die Zeiten absoluter Straffreiheit scheinen vorbei. So erhoffen sich die Familien der Opfer des »Schwarzen Oktober« von 2003 jetzt eine Auslieferung von Expräsident Sánchez de Losada aus den USA. Damals kamen 67 Demonstranten ums Leben, nachdem Losada der Armee den Schießbefehl gegen protestierende Bewohner der Armenstadt El Alto erteilt hatte. Bis heute lebt der reichste Mann Boliviens als »politischer Flüchtling« in Miami. Mit dem Kauf einst staatlicher Minenlizenzen und bolivianischer Airlines während seiner Privatisierungspolitik der 90er Jahre machte der in den USA geborene »Goni« Millionen.

Heute sieht man ganz andere Gesichter auf den Fluren des Regierungssitzes Palacio Quemado von La Paz. Mit Amalia Morales ist es erstmalig einer »Frau im Rock« - so werden indigene Frauen bezeichnet - gelungen, bis in die höchste Instanz des bolivianischen Justizwesens vorzudringen. Und die 51-Jährige sorgte bei ihrer Ernennung in der vergangenen Woche für Furore. Sichtlich bewegt war sie mit Melonen-Hut, langem Rock, Schal und großen Goldohrringen vor die Presse getreten. »Die Ungerechtigkeit und Diskriminierung haben mich dazu bewegt, Anwältin zu werden. Ich bin stolz die erste Frau im Rock zu sein, die vom Präsidenten ernannt wurde«, sagte sie. 1985 hatte Morales ihr Studium der Rechtswissenschaft mit Erfolg beendet und blickt auf eine lange Karriere zurück.

Auch im Kongress sind die »Frauen im Rock« nicht mehr zu übersehen, allein drei Ministerinnen gehören dazu. Das Tragen der traditionellen Tracht innerhalb einer indigenen Gemeinde steht bis heute für »Ehre und Autorität« und ist Zeichen einer gemeinsamen Identität unter den in Bolivien historisch ausgegrenzten Indígenas.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Februar 2010


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