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Und Bolivien existiert doch

Jahrhundertelang wurde die Bevölkerung um den Ertrag ihrer Bodenschätze betrogen / Jetzt setzt sie sich gegen internationale Konzerne durch

Am 18. November erschien in der Frankfurter Rundschau ein Beitrag über Bolivien. Der Autor: Eduardo Galeano, gebürtig in Uruguay, Schriftsteller und Journalist, der mit seinem bekanntesten Buch "Die offenen Adern Lateinamerikas", das vor mehr als 30 Jahren erschien, unsere Einstellung gegenüber Lateinamerika nachhaltig geprägt hat. Das Überraschende an dem Beitrag in der FR war aber, dass er im Wirtschaftsteil erschien; ausnahmsweise also nicht, wie das mit gesellschaftskritischen Artikeln sonst häufig geschieht, im Feuilleton.
Wir dokumentieren den Text, den die FR ihrerseits bereits "leicht gekürzt" veröffentlichte, ohne leider genaue Angaben über die Herkunft des Originaltextes zu machen, mit einigen Kürzungen.



Von Eduardo Galeano

Eine riesige (Gas-)Explosion - das war die Volkserhebung, die Bolivien in den vergangenen Wochen erschütterte und Gonzalo Sánchez de Lozada zum Rücktritt zwang. Der Präsident flüchtete und hinterließ einen Platz voller Leichen. Das Erdgas, Ursache der Konflikts, sollte nach Kalifornien ausgeführt werden, für einen miserablen Preis und im Austausch mit billigen Geschenken. Es sollte über chilenische Häfen verfrachtet werden, die zu anderen Zeiten bolivianische waren. Das hat viel Salz in die Wunde gerieben - Bolivien ist ein Land, das mehr als ein Jahrhundert lang vergeblich den Zugang zum Meer fordert, den es 1883 in einem Krieg verloren hat.

Aber nicht der Weg des Erdgases, ein tiefer liegender Grund war entscheidend für die öffentliche Empörung, die von der Regierung - wie es schon immer Brauch war - mit scharfer Munition beantwortet wurde und ein Blutbad anrichtete. Die Leute standen auf, weil sie nicht zulassen wollten, dass mit dem Erdgas das Gleiche geschieht, wie mit dem Silber, dem Salpeter, dem Zinn und all den anderen Rohstoffen. (...)

Um das Jahr 1870 erlebte ein britischer Diplomat in Bolivien einen unangenehmen Zwischenfall. Der Diktator Mariano Melgarejo bot ihm ein Glas Chicha an - das bolivianische Nationalgetränk, gebraut aus gegärtem Mais. Der Diplomat lehnte jedoch dankend ab, mit der Bemerkung, er ziehe Schokolade vor. Melgarejo, der nicht für seine Feinfühligkeit bekannt war, zwang ihn, einen großen Krug voller Schokolade zu trinken und führte ihn danach, verkehrt auf einem Esel sitzend, durch die Straßen von La Paz. Als Königin Victoria in London davon erfuhr, verlangte sie nach einem Weltatlas, strich das Land mit einer Kreide durch und verkündete: "Bolivien existiert nicht."

Mehrfach bin ich über diese Geschichte gestolpert. Kann es sein, dass sie wirklich so stattgefunden hat? Auf jeden Fall wäre sie kennzeichnend für die imperiale Arroganz und kann auch als unfreiwillige Zusammenfassung der qualvollen Geschichte des bolivianischen Volkes gelesen werden. Die Tragödie wiederholt sich wie in einem Ringelspiel: Seit fünf Jahrhunderten ist der ungeheure Reichtum Boliviens ein Fluch für die Einwohner, die zu den Ärmsten der Armen in Südamerika gehören. "Bolivien existiert nicht" - es existiert nicht für die Kinder dieses Landes. Früher, in der Kolonialzeit, war es das Silber aus Potosí, das über zwei Jahrhunderte die kapitalistische Entwicklung Europas mitfinanziert hat. Mitte des 16. Jahrhunderts schoss damals eine Stadt aus dem Boden - so dicht bevölkert, teuer und verschwenderisch wie keine andere - am Fuße des Berges, der Silber ausspuckte. "Die Straßen sind überfüllt mit Menschen, so als ob das Reich umziehen würde", schrieb damals ein reicher Minenbesitzer in Potosí.

Dieser reiche Berg, "Cerro Rico", verschlang Indianer. Die indigenen Gemeinden verloren ihre männlichen Einwohner, die aus allen Richtungen als Gefangene in Richtung des Schlundes getrieben wurden, der in die Minen führte. Draußen herrschten eisige Temperaturen. Drinnen war die Hölle. Von zehn, die hineingingen, kamen nur drei lebendig wieder raus. Aber die Verurteilten zur Minenarbeit, die nicht lange überlebten, erzeugten den Reichtum der flämischen, genuesischen und deutschen Bankiers, Gläubiger der spanischen Krone. Es waren diese Indianer, die jene Akkumulation von Kapital ermöglichten, die Europa zu dem gemacht hat, was es heute noch ist.
(...)
Im 19. Jahrhundert, als Bolivien im "Pazifikkrieg" besiegt wurde, verlor es nicht nur den Zugang zum Meer - und wurde im Herzen Südamerikas eingesperrt -, sondern auch den Salpeter. Der offiziellen Geschichtsschreibung - die Militärgeschichte ist - zufolge hat Chile den Krieg gewonnen. Die wirkliche Geschichte stellt aber fest, dass der Sieger ein britischer Unternehmer namens John Thomas North gewesen ist. Ohne einen einzigen Schuss abzugeben oder einen Penny auszugeben, erhielt North riesige Gebiete, die einst zu Bolivien und Peru gehört hatten, und wurde zum König des Salpeters, damals der unentbehrliche Dünger für die ausgelaugten Böden in Europa.

Im 20. Jahrhundert war Bolivien der wichtigste Lieferant von Zinn am internationalen Markt. (...)

Die Löhne der Arbeiter wurden praktisch auf null reduziert, es gab Streiks, die Maschinengewehre spuckten Feuer. Simon Patino, Chef des Zinngeschäfts und Herrscher über das Land, musste keine Entschädigungen zahlen, denn das Gemetzel der Maschinengewehre wurde nicht als Arbeitsunfall anerkannt. Damals zahlte Don Simon an den Fiskus Steuern in Höhe von 50 Dollar jährlich, mehr erhielten von ihm allerdings der Präsident der Nation und seine Minister.

Er war einmal ein Hungerleider gewesen, den der Wunderstab der Göttin Fortuna berührte. Seine Enkelinnen und Enkel wurden Mitglieder des europäischen Adels. Sie heirateten in die königlichen Familien. Als die Revolution 1952 Patino entthronte und das Zinn verstaatlicht wurde, war nichts mehr von dem Mineral vorhanden. Nur noch Reste der intensiven 50-jährigen Ausbeutung für den Weltmarkt.
(...)
Im Land, das existieren will, in dem die indigene Mehrheit sich nicht schämt, das zu sein, was sie ist, wird der Spiegel nicht mehr angespuckt. Dieses Bolivien, das es satt hat, für den fremden Fortschritt zu leben, ist das wirkliche Bolivien. Seine ignorierte Geschichte, voll von Niederlagen und Verrat, aber auch von Wundern, von solchen, die nur die Verachteten zustande bringen, wenn sie aufhören, sich selbst zu verachten und sich untereinander zu bekämpfen. Erstaunliche Tatsachen voll Mut und Schneid.

2000 etwa wurde das Wasser auf Grund eines Volksaufstands entprivatisiert - ein weltweit einmaliger Fall. Der so genannte "Krieg des Wassers" brach in Cochabamba aus. Die Bauern kamen aus allen Tälern. Auch die Stadtbewohner standen auf. Die Antwort waren Schüsse und Tränengas. Die Regierung erklärte den Ausnahmezustand. Aber der Aufstand ging weiter, unhaltbar und im letzten Anlauf wurde das Wasser dem US-Konzern Bechtel aus den Händen gerissen. Es wurde zurückerobert, als Grundelement für die Menschen und die Landwirtschaft.

Vor einigen Monaten hat eine andere Volkserhebung in Bolivien niemand geringerem als dem Internationalen Währungsfonds (IWF) eine empfindliche Niederlage zugefügt. Der Blutzoll, den die Erhebung forderte, war allerdings hoch. 30 Menschen wurden von so genannten Ordnungshütern ermordet - aber die Bevölkerung hat nicht nachgegeben. Letztendlich musste die Regierung, eine gerade eingeführte - vom IWF geforderte - Steuer wieder aufgeben.

Dann der Kampf um das Erdgas: Bolivien hat davon riesige Vorräte. Sánchez de Lozada, der Präsident, hatte seine schlecht getarnte Privatisierung als "Kapitalisierung" Boliviens zu verkaufen versucht. Aber das Land, das existieren will, hat erneut bewiesen, dass es ein gutes Gedächtnis hat. War es doch wieder einmal die alte Geschichte des Reichtums, der sich verflüchtigt?

Die Leute werden weiter fordern, dass das Erdgas in den Dienst Boliviens gestellt wird, statt dass sich Bolivien wieder einmal der Diktatur seiner Naturschätze unterwirft. Das Selbstbestimmungsrecht, so oft zitiert, aber so wenig respektiert, fängt damit an. Der zivile Ungehorsam hat der Konzerngruppe Pacific LNG ein saftiges Geschäft versalzen - die Gruppe besteht aus Repsol YPF, British Gas und Panamerican Gas, letztere eine Tochter des US-Konzerns Enron, der wegen aufgedeckter Bilanzmanipulationen berühmt berüchtigt ist. Alles deutet darauf hin, dass die Konzerne ihre Erwartungen von zehn Dollar Gewinn auf jeden investierten Dollar vergessen können.

Auf der anderen Seite hat der flüchtende Sánchez de Lozada seine Präsidentschaft verloren. Er wird aber sicherlich seinen guten Schlaf behalten. Auf seinem Gewissen lastet zwar das Verbrechen, mehr als 80 Demonstranten ermordet zu haben. Aber das war nicht sein erstes Gemetzel. Diese Sorte von Apologeten der Modernisierung haben keine Gewissensbisse, wenn es nicht gerade um ihren Profit geht.

Aus: Frankfurter Rundschau, 18.11.2003


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