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Milliarden nach La Paz

Boliviens Energiesektor verbucht trotz Verstaatlichung Rekordinvestitionen aus dem Ausland. Kritiker fordern nun mehr Geld für Industrialisierung des Landes

Von Benjamin Beutler *

Boliviens Gas- und Erdölwirtschaft kommt nach der von der Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) angeschobenen Verstaatlichung allen Unkenrufen zum Trotz in Schwung. Zu Beginn dieser Woche präsentierte Carlos Villegas, Minister für Energie und fossile Brennstoffe, die für 2008 zu erwartenden Investitionen im Energiesektor. Sie markierten »praktisch einen Rekord«, so Villegas. Sein Ministerium rechne mit einem Gesamtvolumen von über 1,2 Milliarden US-Dollar, 260 Millionen Dollar mehr als im Vorjahr. 876,5 Millionen US-Dollar kommen aus dem Ausland, 389,5 Millionen trägt das wiedergegründete staatliche Energieunternehmen YPFB (Yacimientos Petroliferos Fiscales Boliviano). Nicht eingerechnet seien schon zugesagte, vertraglich noch nicht fixierte Investitionen des russischen Unternehmens Gasprom, der staatlichen venezolanischen Erdölgesellschaft PDVSA, sowie des Iran.

Panikmache entlarvt

Fast zwei Jahre nach der Verstaatlichung des bedeutendsten Wirtschaftsbereichs scheint die anfängliche Zurückhaltung der internationalen Energiemultis überwunden. Zwölf Unternehmen operieren in dem ressourcenreichen Land, das nach Venezuela über die zweitgrößten Gasvorkommen des Kontinents verfügt. Die 2007 neu ausgehandelten Förderverträge mit den Unternehmen garantieren dem Staatshaushalt des immer noch ärmsten Landes Südamerikas nie dagewesene Einnahmen. Gingen 2003 von jedem Dollar, der aus der Förderung einheimischer Rohstoffe erlöst wurde, noch 75 Cent ins Ausland, so ist das Verhältnis heute umgekehrt. 2007 wurden aus der Nutzung von Bodenschätzen zwei Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. 2005 noch lag der Betrag bei nur 300 Millionen Dollar. Erstmals seit 34 Jahren konnte so ein Haushaltsüberschuß erzielt werden.

Der aktuelle Investitionsrekord ist zweifelsohne Verdienst der unbeirrten Verstaatlichungslinie der MAS. Dies entlarvt auch die Kritiker aus den Reihen der konservativen Opposition als populistische Angstmacher. Im Vorlauf der Verstaatlichung hatten diese einen katastrophalen Rückgang des Auslandsengagements und einen Zusammenbruch der Produktion prognostiziert. Experten wie Piettro Pitts vom Latin Petrolium Magazin attestierten Bolivien vorab, es habe »weder das technische Know-how noch Kapital und die Erfahrung«, um sein Erdgas gewinnbringend zu nutzen. »Die Verstaatlichung hat im Gegenteil Investoren erst angezogen und neue Abkommen ermöglicht«, so YPFB-Präsident Guillermo Aruquipa dazu.

Tatsächlich strafen die Zahlen die Stimmungsmacher von damals Lügen. Addiert man die Investitionen im Bergbau hinzu (hier wurde zuletzt das Joint Venture zwischen Bolivien und der indischen Jindaal für die Ausbeutung der weltweit größten Eisenmine »El Mutún« unter Dach und Fach gebracht), so wurde 2007 sogar die historische Drei-Milliarden-Dollar-Marke geknackt. Zum Vergleich: Radikale Marktöffnung und Privatisierung unter Expräsident Sánchez de Lozada, Musterschüler von Weltbank und Internationalem Währungsfonds IWF, brachten mit 1,3 Milliarden US-Dollar nicht einmal die Hälfte der jetzigen Investitionssumme ins Land.

Geld für Infrastruktur

Das Einlenken der Energiemultis wie der brasilianischen Petrobras, des Konsortiums um die spanische Repsol YPF, British Gas, British Petroleum und Total aus Frankreich zeigt, daß die bolivianischen Reserven unverzichtbar für den regionalen Energiemarkt sind. Vor allem Brasilien und Argentinien sind auf Lieferungen des Nachbarlandes angewiesen. Hinzu kommt Chile, das seinen Bedarf über Argentinien deckt. Aufgrund fehlender Produk­tionskapazitäten kann Bolivien die ungebremste Nachfrage kaum bedienen. 2008 wird das Land manche Lieferverträge nur teilweise erfüllen. Die tägliche Produktion liegt bei 42 Millionen Kubikmeter Gas, wovon 31 Millionen Kubikmeter nach Brasilien und fünf nach Argentinien gehen. Sechs Millionen Kubikmeter sind für den eigenen Markt bestimmt. Daher werden mehr Investitionen folgen, zumal im Norden und Osten Boliviens neue Gas- und Ölfelder entdeckt wurden, die bis Ende 2008 erschlossen werden sollen.

Die auch dank hoher Energieweltmarkpreise gestiegenen Einnahmen sollen in den Ausbau der schwachen Infrastruktur fließen. Es fehlen Pipelines, Raffinerien und Tankstellen, damit Bolivien den Schritt aus seiner Rolle als Rohstofflieferant hin zur Industrialisierung gehen kann. Das betont auch der ehemalige Energieminister und Kopf der 2006 begonnenen Verstaatlichung, Andrés Sóliz Rada: »Bolivien hat 60 Prozent seiner Geldreserven, im Dezember 2006 waren das 3,1 Milliarden US-Dollar, zur Kreditvergabe an auswärtige Banken und transnationale Unternehmen verwendet«. Das müsse sich ändern. Auch sollten verbliebene Energiefirmen, die bis heute nicht verstaatlicht wurden, diesen Sonderstatus verlieren, fordert er. Daß die MAS-Regierung dennoch nicht auf Kuschelkurs mit der Privatwirtschaft ist, zeigt der jüngste Fall, bei dem ein Gericht drei private Energieunternehmen zu einer Steuernachzahlung in Millionenhöhe verurteilt hat.

* Aus: junge Welt, 11. Januar 20087


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