"In der Welt regieren die Reichen oder regieren die Armen"
Vor fünf Jahren trat in Bolivien mit Evo Morales erstmals ein indigener Präsident sein Amt an
Von Johnny Norden *
Am Sonntag, dem 22. Januar 2006, legte Evo Morales vor dem Parla-mentsgebäude in La Paz den
Amtseid auf die Verfassung ab. Einen Monat vorher hatte er mit der absoluten Mehrheit von 54
Prozent der Stimmen die Präsidentenwahl gewonnen. Nun hielt er vor den geladenen Staatschefs
der Welt eine kurze Ansprache. Morales sprach stockend, verhaspelte sich zweimal. Man merkte
dem 46-Jährigen an, dass er derartige protokollarische Verpflichtungen nicht gewohnt ist, und auch
nicht mag. Wenig später gab der neue Präsident eine Pressekonferenz und lächelte höflich in die
Kameras von dutzenden Fernsehsendern.
Drei Monate später unterzeichnete Evo Morales ein Dekret, mit dem die großen Erdöl- und
Bergbaukonzerne enteignet wurden. Die Überraschung der Weltöffentlichkeit war groß. Morales
hatte damit eines seiner zentralen Wahlversprechen eingelöst: Die reichen Bodenschätze Boliviens
in die Hände seines Volkes zu überführen. Eines Volkes, das neben Haiti zu den ärmsten des
Kontinents gehört. Eines Volkes, das zu zwei Drittel indigener Herkunft ist.
Evo Morales respektiert indigene Traditionen
Vieles spricht dafür, dass die eigentliche Amtseinführung des Evo Morales bereits einen Tag vor der
Zeremonie in der Hauptstadt 100 km entfernt stattgefunden hatte: In Tiwanaku, am Ufer des
Titicacasees. Zehntausende Indios waren zu dieser ihrer heiligen Stadt im bolivianischen Hochland
gepilgert. Die zerfallenen Pyramiden, Riesenstatuen und Gebäudereste sind Zeugnisse einer uralten
indianischen Hochkultur. Die Menge mit Morales und den Priestern an der Spitze zog zu dem
großen Platz vor der Puerta del Sol. Hier ergriff Evo Morales das Wort.
»Schwestern und Brüder Boliviens, der lateinamerikanischen Länder und der ganzen Welt: Heute
beginnt von Tiwanaku, von Bolivien aus ein neues Zeitalter für die Urvölker, ein neues Leben, in
dem wir nach Gleichheit und Gerechtigkeit streben.« Seine stockende Stimme gewann nach und
nach an Festigkeit. Die Zuhörer spürten seine innere Bewegtheit. »Vereint und organisiert werden
wir eine Wirtschaftspolitik verändern, die nicht dazu beiträgt, die Situation der nationalen Mehrheiten
zu verbessern. Die Konzentration des Kapitals in wenigen Händen ist keine Lösung für die Armen
der Welt. Wir haben die Verpflichtung, die Wirtschaftsprobleme zu lösen, die durch die Privatisierung
unserer nationalen Reichtümer hervorgerufen wurden. Den Kampf, den Che Guevara begonnen hat,
werden wir zuende führen. Dieser Kampf hört nicht auf, er endet nie. In der Welt regieren die
Reichen oder regieren die Armen.«
2005 brach in Bolivien ein Volksaufstand gegen die Privatisierungspolitik der Regierung aus und der
damalige Gewerkschaftsaktivist Morales wurde einer der wichtigsten Anführer. Durch seinen
außergewöhnlichen Mut, sein mitreißendes Temperament und sein hervorragendes
Organisationstalent erwarb er sich die Sympathie der Aufständischen. So kam es, dass Evo Morales
für die Wahlen am 18. Dezember 2005 als Präsidentschaftskandidat aufgestellt wurde. Er verdankt
seinen Wahlsieg dem »Movimiento al Socialismo« (MAS), einem breiten Bündnis von Bewegungen
und Organisationen, deren treibende Kraft die Gewerkschaft der Kokabauern und die
Bauerngemeinschaften des Hochlandes ist.
In den Regierungsjahren von Morales ist der Rückhalt des Präsidenten in der Bevölkerung
gewachsen. Bei seiner Wiederwahl 2009 erhielt Evo Morales mit 64 Prozent erheblich mehr
Stimmen, als 2005. Grund für diese gewachsene Massenbasis ist der entschlossene Kampf für die
Erfüllung der Wahlversprechen. Seit der Übernahme der Präsidentschaft verfolgt Evo Morales eine
Dreifachstrategie: Kontrolle über die Bodenschätze und den Großgrundbesitz, Kampf gegen die
Armut sowie Aufbau eines Nationalstaates.
Den größten Erfolg erzielte Evo Morales in seinem ersten Amtsjahr: die friedliche Enteignung der
Erdöl- und Gaskonzerne. Bolivien verfügt über die größten Gasvorkommen Amerikas und über
Erdöllager, die nur in Venezuela größer sind. Die Weltbank schätzt, dass Bolivien nach der
Enteignung in den kommenden 20 Jahren über 100 Milliarden US-Dollar aus dem Verkauf von Öl
und Gas erzielen wird.
Friedliche Enteignung der Multis
Der friedliche Charakter der Enteignung ist durch eine sorgfältige Vorbereitung möglich geworden.
Morales hatte sich rechtzeitig der nötigen internationalen Solidarität versichert. Ingenieure und
andere Spezialisten aus Venezuela, Algerien und Norwegen waren präsent und halfen den wenigen
bolivianischen Fachleuten, die Anlagen in Gang zu halten. Noch am selben 1. Mai begrüßte der
brasilianische Präsident Lula das Dekret als »Gebot der Gerechtigkeit«, obwohl der in Bolivien
agierende brasilianische Staatskonzern Petrobras viel Geld verloren hatte.
Weiterhin gelang es Evo Morales, den Konzernen neue Verträge aufzuzwingen: Sie erhalten jetzt 18
Prozent der Gewinne, 82 Prozent gehen an den bolivianischen Staat. Früher war das Verhältnis 95
Prozent zu fünf Prozent. Immer noch ein Riesengeschäft für die Unternehmen. Aber sie haben sich
von Alleineigentümern zu Dienstleitungsunternehmen für das bolivianische Volk verwandelt.
Der Sieg über die Not ist das zweite Ziel der Morales-Regierung. Das Elend in Bolivien ist
schrecklich. Jedes vierte Kind leidet unter schwerer und dauernder Unterernährung. Das 2007
gestartete »Programm gegen die Unterernährung« soll für ausreichendes Essen, medizinische
Versorgung, menschenwürdige Wohnbedingungen und Trinkwasser für alle Kleinkinder sorgen.
2009 traten die Bonus-Dekrete in Kraft. Mit einem System vorerst bescheidener Stimuli erhalten
Eltern einen Anreiz, ihre Kinder zur Schule zu schicken; über 60-Jährige erhalten eine minimale
Grundsicherung und werdende Mütter ein Schwangerschaftsgeld. Die Weltbank prognostiziert im
Ergebnis dieser Programme einen signifikanten Rückgang der Armut in Bolivien. Doch die
bolivianische Revolution besteht nicht nur aus einer Reihe politischer Siege und vielversprechender
Reformen. Ein Misserfolg ist bisher die Bodenreform. Mit ihr sollten die Landarmen Boden erhalten.
Großgrundbesitzer dürfen gemäß den Agrardekreten nur noch 2000 bis 5000 Hektar besitzen. Den
Herren der riesigen Güter im fruchtbaren Tiefland gelang es bisher, die Agrarreform zu torpedieren.
Sie teilten ihre Latifundien formal unter Familienmitgliedern und Strohmännern auf. Killer der
Großgrundbesitzer ermordeten bisher Dutzende Angestellte des Staatssekretariats für Bodenreform
und Aktivisten örtlicher Bauernorganisationen.
Die Errichtung eines Nationalstaates ist für Evo Morales und die MAS das dritte Ziel. Dazu hielt der
Präsident im August 2006 zur Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung eine
Grundsatzrede. Nachdem das Volk Herr über seine Reichtümer geworden sei – so Morales – soll die
Schaffung einer multiethnischen, demokratischen und solidarischen Gesellschaft der nächste Schritt
sein.
Eine Bedrohung erwächst der bolivianischen Revolution aus einem fanatischen indianischen
Rassismus. Zu seinem Zentrum ist die Bewegung Pachakutik geworden, angeführt von dem
charismatischen Felipe Quispe. Seine Botschaft ist einfach: Die Weißen sind Eindringlinge; in Folge
ihrer ungeheuren Verbrechen in Vergangenheit und Gegenwart ist ihr weiterer Verbleib in den
Anden unerträglich, Pachamama befiehlt ihre Vertreibung. Quispe verfügt über ein hohes
persönliches Prestige. Er war die zentrale Figur der bewaffneten Widerstandsbewegung, die
zwischen 2000 und 2005 drei Regierungen stürzte und schließlich die Wahl von Evo Morales
möglich machte. Quispe ist ein begnadeter Redner und politischer Mobilisator. Seine
leidenschaftliche Sprache und seine Unversöhnlichkeit sichern ihm die Treue einer in die
Zehntausende gehenden Anhängerschaft, die eine schnelle und radikale Verbesserung der
Lebensbedingungen ersehnt. Quispe wirft Morales vor, er schließe Kompromisse mit den Feinden
des indianischen Volkes. Er hetzt gegen weiße Generäle in der Armee und die katholische Kirche,
die weiterhin ihre Messen feiern darf. Sein besonderer Hass gilt dem weißen Vizepräsidenten Álvaro
Garcia Linares. So steht Evo Morales unter Zeitdruck: Entweder seine Idee des Nationalstaates trägt
bald Früchte, oder es gelingt Quispe und anderen rassistischen Aktivisten, die Wut der Indios über
ihre lange Demütigung und ihr grausames Leid gegen die Regierung zu mobilisieren.
Eine schwere Last für die bolivianische Revolution ist die Korruption. Seit seinem Amtsantritt hat Evo
Morales schon fünfmal den Geschäftsführer der staatlichen Erdölgesellschaft auswechseln müssen.
Zwei der Ehemaligen stehen vor Gericht, weil sie von Unternehmen riesige Bestechungssummen
angenommen hatten.
Eine weitere Schwachstelle: Die MAS leidet an einem empfindlichen Mangel an qualifizierten
Kadern. Bei seinem Amtsantritt hatte Evo Morales eine radikale Entscheidung gefällt: Er untersagte
seinen Ministern, Direktoren und leitenden Angestellten den geringsten Kontakt mit Amtsinhabern
der ehemaligen Regierung. Dies sollte Korruption, aber auch politische Abweichungen und
reaktionäre Einflussnahme verhindern. Mit dieser Entscheidung verliert die bolivianische Revolution
aber auch ehrliche Fachleute, die sich für ihr Volk engagieren möchten.
Sezessionisten bereiten Morales Kummer
Evo Morales muss noch an einer anderen Front einen Kampf mit unklarem Ausgang führen. In den
drei wichtigsten Bezirken des östlichen Tieflandes formiert sich eine sezessionistische Bewegung.
Sie strebt die Bildung eines autonomen Staates an. In dieser Gegend hatte Evo Morales bei der
Wahl 2005 nur 33 Prozent der Stimmen erhalten. Der weiße Anteil der Bevölkerung ist erheblich
größer als im Ostteil des Landes. Die meisten Erdöl- und Gaslager befinden sich in eben diesem
Landesteil. Die Landwirtschaft wird dort dominiert von Baumwoll-, Soja- und Maishaziendas, auf
denen noch eine Art Sklavenarbeit herrscht. Und Sklaven wählen wie ihre Herren.
Evo Morales steht in der Traditionslinie jener großen revolutionären Anführer Lateinamerikas, wie
Fidel Castro und Salvador Allende, die den Mut und das besondere Talent hatten, eine radikale
Umgestaltung der Gesellschaft ihrer Länder anzuführen. Wie Castro und Allende hat Morales die
Fähigkeit, die spezifischen Bedingungen seines Landes für die Revolution zu erkennen und die
konkreten Wege zur Öffnung einer sozialisti-schen Perspektive zu finden, frei von jeder Dogmatik.
Wie Castro und Allende hat Evo Morales den Mut, hundertfach stärkeren Gegnern den
Fehdehandschuh hinzuwerfen. Morales vollzog einen historischen Bruch mit dem Unrechtssystem in
Bolivien und der imperialistischen Weltordnung. Er hat dem scheinbar allmächtigen Großkapital eine
bittere Niederlage zugefügt. Das mobilisiert ein neues Identitätsbewusstsein der indianischen
Bevölkerung, gibt ihr Kraft zum Kampf, zu Widerstand und ungeahnten schöpferischen Leistungen.
* Aus: Neues Deutschland, 22. Januar 2011
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