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Tote in Belgien

Mutmaßliche Islamisten von Polizei in Verviers erschossen

Von Gerrit Hoekman *

Bei einem Antiterroreinsatz gegen mutmaßliche Dschihadisten sind am Donnerstag abend in der belgischen Stadt Verviers zwei Verdächtige getötet worden. Ein dritter wurde offenbar verletzt. Es habe »deutliche Informationen gegeben, dass ein Anschlag kurz bevor stand«, teilte die Polizei noch am selben Abend auf einer Pressekonferenz mit, die live vom Fernsehsender VTM Nieuws übertragen wurde. Bei dem Zugriff hätten die Verdächtigen umgehend mit Sturmgewehren und automatischen Waffen das Feuer eröffnet, das Gefecht habe »etliche Minuten gedauert«.

Gleichzeitig gab es elf weitere Hausdurchsuchungen, unter anderem auch in Brüssel. Dabei fand die Polizei Waffen und Sprengstoff, teilte ein Sprecher auf einer Pressekonferenz am Freitag mittag mit. Insgesamt wurden 13 Personen verhaftet. Zwei weitere Belgier sind in Frankreich verhaftet worden. Bei einigen der Festgenommenen soll es sich um Rückkehrer aus dem syrischen Bürgerkrieg handeln. Die Zelle habe vorgehabt, Polizisten auf offener Straße zu erschießen und Polizeistationen anzugreifen. Bei den Durchsuchungen haben die Beamten auch Polizeiuniformen sichergestellt. Wenige Stunden nach dem Feuergefecht in Wallonien wurde in Lüttich offenbar ein weiterer Mann angeschossen, als ein Auto mit zwei Insassen vor einer Polizeistreife floh. Die Umstände sind noch unklar.

Am Donnerstag ist im Internet ein Video aufgetaucht, in dem die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) seine Kämpfer in Europa zu genau solchen Anschlägen aufruft: »Wenn ihr Polizei seht, tötet sie!« Frankreich, die Schweiz, Belgien und Deutschland werden darin ausdrücklich als Anschlagsziele genannt.

Ob das Video tatsächlich vom IS stammt, kann nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Die belgische Polizei machte keine Angaben darüber, inwieweit das Video Anlass für die Aktion am Donnerstag war. Belgien ist bereits das zweite Mal in kurzer Zeit im Visier vermeintlicher Islamisten. Am 24. Mai 2014 hatte ein Attentäter im jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen getötet, darunter ein Ehepaar aus Israel.

Die wallonische Kleinstadt Verviers liegt östlich von Lüttich und ist ungefähr 20 Kilometer von Aachen entfernt. Sie gilt belgischen Medienberichten zufolge als eine Art Hochburg der »Islamisten«. Die Zelle sei bereits lange vor dem Angriff auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo vor einer Woche beobachtet worden, erklärte die Polizei bereits am Donnerstag abend. Eine Verbindung zu den drei Attentätern von Paris sei eher unwahrscheinlich.

Die belgische Regierung hat im gesamten Land die Terrorwarnstufe auf drei angehoben (»ernst«), es ist die zweithöchste. »Die Armee steht bereit«, verkündete der belgische Verteidigungsminister Steven Vandeput. Polizeibeamte in Antwerpen dürfen bis auf weiteres ihre Pistolen mit nach Hause nehmen. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass die Polizeiaktion vom Donnerstag andere sogenannte Schläfer weckt, die nun einen Plan B ausführen sollen. »Wir wissen nicht, welche Nebeneffekte das hat«, gab Innenminister Jan Jambon, ein Hardliner der flämischen Nationalisten der Nieuw-Vlaamse Alliantie, am Freitag bei Radio 1 zu.

Die jüdischen Schulen in Antwerpen und Brüssel ließen ihren Unterricht am Freitag ruhen, wie das Monatsmagazin Joods Actueel auf seiner Homepage berichtet. Der israelische Geheimdienst Mossad habe der jüdischen Gemeinde in Belgien dazu geraten.

Soziologen machen die belgische Sozialpolitik dafür mitverantwortlich, dass es in dem kleinen Land verhältnismäßig viele »Islamisten« gibt. So wird die Zahl der sogenannten Syrien-Gänger höher eingeschätzt als beispielsweise in Deutschland, das rund sechsmal so viele Einwohner hat.

Die harten Sparmaßnahmen der vergangenen Regierungen drängen immer mehr Belgier ins soziale Abseits. Besonders betroffen sind Migranten. Weil sich viele von ihnen in den Innenstädten aufgrund steigender Mieten keine Wohnung mehr leisten können, entstehen an den Rändern der Großstädte regelrechte Ghettos.

In den trostlosen Hochhaussiedlungen hat kaum noch jemand Arbeit, unter den jungen Leuten macht sich Resignation breit, die Bewohner fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und diskriminiert. Ein idealer Nährboden für religiöse Fanatiker.

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. Januar 2015


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