Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Für "die Märkte"

Sozialdemokrat di Rupo führt neue Regierung in Belgien. Sozialabbau für Bankenrettung

Von Arne Baillière *

Nach 535 Tagen hat die Regierungskrise in Belgien offenbar ein Ende gefunden. Der Sozialdemokrat Elio di Rupo (PS) soll nun doch Premier an der Spitze einer Sechs-Parteien-Regierung werden. Allerdings dürfte seine Koalition nicht lange ohne neue Konflikte bleiben. Dem Land stehen umfangreiche soziale Kürzungen bevor, und infolge der Rettungsaktionen für belgische Großbanken wurde die Kreditwürdigkeit des Landes von den Ratingagenturen herabgestuft. Das wird in Belgien auch als der eigentliche Grund dafür gesehen, daß sich Sozialisten, Christdemokraten und Liberale aus den beiden Landesteilen nun doch auf ein neues Kabinett geeinigt haben.

An der neuen Regierung sind nur die »klassischen« Parteien beteiligt, obwohl sie fast alle bei den Wahlen im Juni 2010 verloren hatten. Die größte politische Kraft auf flämischer Seite, die separatistische NV-A, bleibt in der Opposition. Belgien bekommt mit di Rupo den ersten französischsprachigen Regierungschef seit Jahrzehnten. Die Tatsache, daß dieser die niederländische Sprache nur mangelhaft beherrscht und seine Koalition zudem über keine Mehrheit unter den flämischen Parteien verfügt, könnte die Gefahr einer weiteren Radikalisierung der flämischen Nationalisten heraufbeschwören und damit die staatliche Einheit Belgiens bedrohen.

Unter dem Druck »Europas« und »der Märkte« haben sich die neuen Koalitionspartner auch auf einen Kompromiß über den neuen Staatshaushalt einigen können. Im vergangenen Jahr hatte sich die geschäftsführende Regierung unter dem Christdemokraten Yves Leterme bei der Rettungsaktion für die untergegangene Dexia-Bank von ihren französischen Partnern über den Tisch ziehen lassen und für den Fall einer Pleite des Finanzinstituts Ausfallgarantien von mehr als 90 Milliarden Euro abgegeben. Die Dexia-Bank war einst von der Christlichen Arbeiterbewegung mitbegründet worden. Bei einem Zusammenbruch wäre deren gesamtes Vermögen verloren gewesen. Elio di Rupo nutzte dies bei den Verhandlungen über die Regierungsbildung, um die Christdemokraten kaltzustellen.

Insgesamt muß Belgien rund 130 Milliarden für die Rettung der Banken aufwenden. Daraufhin explodierten die Zinsen, die Brüssel für Kredite zahlen muß, auf über sechs Prozent, die Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit des Landes von AA+ auf AA ab.

Für die Gewerkschaften bedeutet das vereinbarte Regierungsprogramm hingegen vor allem die undemokratische Durchsetzung der EU-Vorgaben. Obwohl die Tinte des Koalitionsvertrags kaum trocken ist, stellen die liberalen Regierungsparteien bereits die von di Rupo »gerettete« Lohnindexierung, die Anpassung der Gehälter und Renten an die Steigerung der Lebenshaltungskosten, in Frage. Die Gewerkschaften kritisieren vor allem die vorgesehenen Kürzungen um 40 Prozent im Bereich der Sozialhilfe, die weitere Verschärfung der Überwachung der Arbeitslosen und die Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre. Diese bestrafe die älteren Beschäftigten und verhindere, daß Jugendliche einen Arbeitsplatz finden können, warnte der Metallarbeiterbund MWB-FGTB. Zusammen mit anderen Gewerkschaften will er zu ständigen Protesten aufrufen, die in einen Generalstreik münden sollen, um »schrittweise die ökonomische Aktivität des Landes stillzulegen, damit man einen Neuanfang im Dienste der Arbeitswelt und im sozialen Bereich schaffen kann«.

* Aus: junge Welt, 2. Dezember 2011


Belgien reif für eine Regierung

Sechs Parteien einigten sich über Abkommen **

Nach mehr als anderthalb Jahren Machtvakuum ist in Belgien eine Einigung über die Regierungsbildung erzielt worden. Die sechs an den Gesprächen beteiligten Parteien verständigten sich 535 Tage nach der Parlamentswahl auf ein »umfassendes« Abkommen. Der Sozialist Elio Di Rupo (Bild) soll als erster Frankofoner seit 32 Jahren die Regierung führen. An den Verhandlungen waren die Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen aus beiden großen Bevölkerungsgruppen des Landes - Flamen und Wallonen - beteiligt. Seit 1974 war Belgien nicht mehr von einem Sozialisten regiert worden, seit 1979 nicht mehr von einem Wallonen. Der 60-jährige Di Rupo verließ den Verhandlungsraum am Mittwochabend ohne Kommentar.

Wie es hieß, würden die Inhalte des Kompromisses erst mitgeteilt, wenn die Parteitage der beteiligten Parteien sie am Wochenende absegnet hätten. »Gegen Ende des Wochenendes« werde die Verteilung der Ministerposten entschieden, die Vereidigung der Regierung könne dann am Montag oder Dienstag folgen. Erst mit der offiziellen Einsetzung einer neuen Regierung ist die Krise beendet.

** Aus: neues deutschland, 2. Dezember 2011


Brüsseler Rekorde

Von Olaf Standke ***

Wo sonst noch gibt es durchgehend beleuchtete Autobahnen, die man auch aus dem Weltraum erkennen soll. Doch nun kommen die Belgier mit einem politischen Weltrekord ins Guinness-Buch. Sie mussten nach der letzten Parlamentswahl über 530 Tage auf eine neue Regierung warten, und immer wieder wurde im Machtvakuum der vergangenen anderthalb Jahre sogar über ein Auseinanderfallen des Königreichs und Euro-Kernlands in Europas Mitte sinniert. Wenn am Wochenende die diversen Parteitage die Koalitionsvereinbarung absegnen, könnten Sozialisten, Christdemokraten und Liberale aus dem Niederländisch sprechenden Flandern wie aus der frankophonen Wallonie endlich das Kabinett neu besetzen.

Das Papier ist ein Kompromiss, der maßgeblich durch die jüngste Herabstufung der belgischen Kreditwürdigkeit und die dramatisch steigenden Risikoprämien für langfristige Staatsanleihen befördert wurde. Aber auch die EU machte Druck und drohte mit Sanktionen, sollte Brüssel nicht mit der überfälligen Sanierung des Haushalts beginnen. Ob so allerdings der Konflikt zwischen den beiden großen Volksgruppen, der mehr als ein Sprachenstreit ist, nachhaltig beigelegt werden kann, darf bezweifelt werden. Die stärkste Partei Flanderns, die nationalistische NVA, wird erst gar nicht am Kabinettstisch sitzen und macht Stimmung: Hier beschließe eine Minderheitsregierung Maßnahmen, die die Bevölkerungsmehrheit der im Vergleich wohlhabenderen Flamen finanzieren müsse. Aber auch die Gewerkschaften haben schon Proteste gegen das Sparpaket angekündigt, weil vor allem Arbeitnehmer und Rentner die Zechen zu zahlen hätten. Wenn kein für das ganze Land sozial verträglicher Weg aus der Krise gefunden wird, könnte bald erneut die Frage stehen, ob für Belgien die Lichter ausgehen.

*** Aus: neues deutschland, 2. Dezember 2011 (Kommentar)


Zurück zur Belgien-Seite

Zurück zur Homepage