Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rekord der Regierungslosigkeit in Belgien

Heute ist das europäische Königreich 250 Tage ohne handlungsfähiges Kabinett *

Fragwürdiger Meistertitel für Belgien: Das kleine Königreich kann mittlerweile die längste Regierungskrise der Welt verzeichnen.

Mit 249 Tagen ohne Regierung löste das Land am Donnerstag (18. Feb.) den bisherigen Rekordhalter Irak ab. Belgien steckt seit den Parlamentswahlen im Juni 2010 in der politischen Sackgasse.

Politiker aus den Landesteilen Flandern und Wallonie streiten erbittert über die Verteilung von Macht und finanziellen Mitteln. Viele belgische Bürger haben von dem Geschacher auf der politischen Ebene indessen längst genug. Am Donnerstag luden rund 30 Studentenorganisationen in etlichen Städten zu Demonstrationen und Musikveranstaltungen ein. Es gehe vor allem darum, gegen den Zerfall Belgiens anzukämpfen, erklärten die Organisationen. Die Initiative wird augenzwinkernd »Fritten-Revolution« genannt, in Anspielung auf das belgische Nationalgericht Pommes frites.

Schon im Januar hatte es in Brüssel einen Protestmarsch gegeben, dem sich über 30 000 Menschen angeschlossen hatten. »Wir wollen eine Regierung – sofort!«, hatten die Demonstranten unter anderem skandiert. Es sei bemerkenswert, hieß es jetzt in einigen Zeitungskommentaren: Während in der arabischen Welt gerade Regierungen verjagt würden, wollten die Belgier unbedingt eine haben.

Dafür gibt es allerdings durchaus ernste Gründe: Unter anderem hat Belgien mit enormen Staatsschulden zu kämpfen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dürften sich durch die Abwesenheit einer Regierung weiter verschärfen, berichtet etwa die Internet-Zeitung »EUObserver«. So wolle die Ratingagentur Standard & Poor's Belgien herabstufen, wenn sich bis Juni keine Regierung gebildet hat.

An kreativen Ideen für den Protest mangelt es jedenfalls nicht. Einige Belgier lassen sich seit Wochen die Bärte wachsen, andere appellieren an die Ehefrauen der Politiker, ihren Gatten bis auf weiteres den Sex zu verweigern. So oder so werden die Bürger sich wohl noch eine Weile gedulden müssen: Am Mittwoch hatte König Albert II. angekündigt, er werde das Mandat des Unterhändlers für die Lösung der Krise noch einmal um zwei Wochen verlängern.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Februar 2011


Fritten-Revolution

Von Olaf Standke **

Pommes-Buden sind eine belgische Institution. Geht es um Fritten, sind Flamen, Wallonen und Brüsseler noch ein einig Volk. Doch bedrohen inzwischen strengere Hygienestandards und städtebauliche Normen diese nationalen Symbole immer stärker. Ihr schleichender Tod passt auf fast schon gespenstische Weise zu den politischen Entwicklungen im Lande. Mit 249 Tagen ohne Regierung löste Belgien am Donnerstag den bisherigen Rekordhalter Irak ab, auch wenn man in einigen Medien darüber sinnierte, dass es in Bagdad dann ja noch einmal 40 Tage dauerte, bis das Kabinett endgültig stand. Doch die Zeit für eine vernünftige Lösung der Krise läuft den belgischen Politikern davon.

Nach den Parlamentswahlen im Juni 2010 haben sich die sieben Parteien aus dem Niederländisch sprechenden Norden und dem französischsprachigen Süden vollends in die politische Sackgasse manövriert. Flandern und die Wallonie streiten kompromisslos über eine Staatsreform, die den Regionen mehr Kompetenzen bringen soll, über die künftige Verteilung von administrativer Macht und Finanzmitteln. Und das, obwohl Belgien auch mit rekordverdächtigen Staatsschulden zu kämpfen hat und als nächster Wackelkandidat im Euroreich gilt. Die Ratingagentur Standard & Poor's hat bereits angekündigt, man müsse seine Bonität herabstufen, sollte sich bis Juni keine neue Regierung gefunden haben. König Albert II. hat jetzt das Mandat seines bislang glücklosen Vermittlers in dieser Krise um weitere zwei Wochen verlängert – während sich immer mehr Bürger zum Protest formieren. Von »Fritten-Revolution« ist in Anspielung auf das belgische Nationalgericht schon die Rede.

** Aus: Neues Deutschland, 18. Februar 2011 (Kommentar)


Zurück zur Belgien-Seite

Zurück zur Homepage