Belgien stürzt in nächste Krise
Premier Leterme bietet Rücktritt an
Von Tobias Müller, Amsterdam, und Ruth Reichstein, Brüssel
Der belgische Premierminister Yves Leterme gibt nach nur vier Monaten im Amt überraschend auf.
Seinem Land beschert er damit nach kurzer Verschnaufpause erneut eine politische Krise.
Am Ende blieb Yves Leterme nur noch eine Möglichkeit: der Gang zum König. Spät am
Montagabend bot er Albert II. den Rücktritt seiner Regierung an, die erst seit vier Monaten im Amt
ist. Damit zog er die Konsequenzen aus dem Scheitern der Verhandlungen zwischen flämischen und
frankofonen Parteien über eine Staatsreform. Im Koalitionsvertrag hatten die Regierungsparteien
festgelegt, bis Mitte Juli ein Maßnahmenpaket zu verabschieden. Doch trotz verstärkter
Bemühungen in den letzten Wochen gelang es nicht, einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu finden.
Leterme sprach in einer ersten Reaktion von »unüberbrückbaren Gegensätzen« zwischen den
Sprachgruppen. Ob der König den Rücktritt annimmt, blieb offen.
Die Staatsreform hält Belgien bereits seit über einem Jahr in Atem. Kern des Konflikts ist die
flämische Forderung, mehr Kompetenzen auf die Ebene der drei Regionen Flandern, Wallonien und
Brüssel zu verlagern, darunter Bereiche der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Fiskalpolitik. Die
französischsprachigen Parteien hingegen lehnen dies ab. Sie befürchten eine Aushöhlung des
belgischen Staats und eine Entsolidarisierung des reichen nördlichen Landesteils, dessen
Transferleistungen das von hoher Arbeitslosigkeit geplagte Wallonien finanziell am Leben halten.
Der deutliche Wahlsieg Yves Letermes im Juni letzten Jahres war vor allem dem Versprechen
geschuldet, mehr Eigenständigkeit für Flandern durchzusetzen. Doch bereits die Bemühungen, eine
Regierung aus Christdemokraten und Liberalen beider Landesteile zu schmieden, scheiterte an den
entgegengesetzten Positionen der Sprachgruppen. Nur eine Übergangsregierung des früheren
Premiers Guy Verhofstadt konnte damals drohende Neuwahlen verhindern. Im Frühjahr schließlich
wurde Leterme Premier einer äußerst heterogenen Koalition, in der die Parti Socialiste für
Christdemokraten und Liberale als Mehrheitsbeschafferin fungierte. Die zentralen Fragen der
künftigen Struktur des Landes jedoch waren lediglich aufgeschoben worden.
Das neuerliche Scheitern der Gespräche zeichnete sich spätestens am Wochenende ab, als
Leterme die Verhandlungspartner abermals um mehr Zeit ersuchte. Auf frankofoner Seite war dazu
ebenso die Bereitschaft vorhanden wie bei den flämischen Liberalen. Allein Letermes eigene Partei,
die flämischen Christdemokraten CD&V, lehnte diesen Schritt mit Blick auf ihre Basis ab, in der
flämisch-nationale Strömungen allmählich die Oberhand gewinnen. Auch in den gemäßigten
Parteien wächst in letzter Zeit die Zustimmung zu Forderungen, wie sie der separatistische Vlaams
Belang nach dem Rücktrittsangebot Letermes bekannt gab: Es sei an der Zeit, den Stecker aus dem
»belgischen Konstrukt« zu ziehen.
Wie die nächsten Schritte aussehen, liegt bisher im Dunkeln. König Albert II. berät sich noch, ob er
den Rücktritt der Regierung akzeptiert. Verschiedene Quellen brachten Didier Reynders, den Chef
des liberalen frankofonen Mouvement Reformateur (MR), als neuen Verhandlungsführer ins Spiel.
Reynders indes betonte, Leterme solle Premier bleiben. Sicher ist nur, dass der Konflikt um die
Staatsreform Belgien erhalten bleibt.
Daneben streiten Flamen und Frankofone nun schon seit Jahren um den Wahlbezirk Brüssel-Hall-
Vilvoorde, zu dem neben der Hauptstadt Brüssel auch einige Gemeinden gehören, die zwar auf
flämischem Hoheitsgebiet liegen, aber mehrheitlich von Frankofonen bewohnt werden. Diese hatten
bisher die Möglichkeit, bei den Parlamentswahlen für frankofone Parteien zu stimmen, obwohl sie in
Flandern wohnen. Dieses Privileg wollen die Flamen abschaffen. Die flämischen Abgeordneten im
nationalen Parlament hatten bereits vor Wochen einen entsprechenden Antrag eingebracht und
damit einen Proteststurm der frankofonen Politiker ausgelöst.
* Aus: Neues Deutschland, 16. Juli 2008
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