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Lukaschenko probt Schaukelpolitik

Präsident sucht Anerkennung für sein Parlament

Von Detlef D. Pries *

Seine Außenpolitik sei von Anfang an »multivektoral« angelegt gewesen, ließ Präsident Alexander Lukaschenko kurz vor den Parlamentswahlen am Sonntag (28. Sept.) westliche Journalisten wissen. Belarus' Lage im Zentrum Europas lasse gar nichts anderes zu, als nach freundschaftlichen Beziehungen auch zu Westeuropa zu streben. Allerdings war Lukaschenkos Streben bisher nicht auf Gegenliebe gestoßen.

Keine der Wahlen, die nach dem Amtsantritt Alexander Lukaschenkos im Jahre 1994 in Belarus stattfanden, bestand den westlichen »Freiheitstest«. Anders als Beobachter aus den Staaten der GUS stellten westliche Experten stets gravierende Mängel fest, obwohl Belarus-Kenner immer auch konstatierten, dass Lukaschenkos Kurs bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung stößt.

Diesmal aber bekannte der Präsident: »Ich mache keinen Hehl daraus: Wir sind daran interessiert, dass unser neues Parlament international anerkannt wird.« Deshalb ordnete er »beispiellose Transparenz« für die Wahlen zur Repräsentantenkammer der Nationalversammlung an, betonte aber zugleich, dass nur das belarussische Volk »das Gesicht des Parlaments« bestimmen werde. Und das Volk hatte bei den vorangegangenen Wahlen nicht zugelassen, dass »Krawallmacher« – so schor Lukaschenko Opponenten über einen Kamm – auch nur ein einziges Mandat erhielten.

Um die 110 Sitze bewerben sich diesmal knapp 300 Kandidaten in 110 Wahlkreisen. Parteilisten gibt es nicht, wohl aber können Parteien Einzelkandidaten aufstellen. Die meisten Bewerber wurden jedoch auf Vorschlag von Arbeitskollektiven registriert. Die Opposition beklagt, dass etliche Wähler durch Vorgesetzte in Betrieben und staatlichen Institutionen zur Unterschrift für präsidententreue Kandidaten genötigt wurden. Oppositionsbewerber dagegen seien wegen angeblich gefälschter Unterschriften nicht zugelassen worden.

So schwankten die Lukaschenko-Gegner zwischen Boykott und Teilnahme an der Wahl. Zuletzt stellten die Vereinigten Demokratischen Kräfte, ein lockeres Bündnis sehr unterschiedlich orientierter Oppositionsparteien, ihren Kandidaten frei, ob sie ihre Bewerbung aufrechterhalten. Zu den etwa 65 Frauen und Männern, die das tun, gehört beispielsweise Olga Kosulina, die Tochter Alexander Kosulins, der nach den Präsidentenwahlen 2006, bei denen er offiziell 2,2 Prozent der Stimmen erhielt, wegen Anstiftung zum Aufruhr und zum Sturm auf ein Gefängnis zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Kosulins Begnadigung im August dieses Jahres wurde als letztes deutliches Anzeichen für Tauwetter in Belarus gewertet.

Auch Sergej Kaljakin, Erster Sekretär der oppositionellen Partei der Kommunisten von Belarus, bewirbt sich um ein Mandat, macht sich jedoch kaum Hoffnungen auf den Einzug ins Parlament – obwohl Lukaschenko erkennen lassen hat, dass er nichts gegen ein paar Oppositionelle in der Repräsentantenkammer hätte. Kaljakin will seine Kandidatur jedoch nutzen, um Wahlfälschungen nachweisen zu können. Bei seinen westlich orientierten Oppositionskollegen machte er sich zuletzt unbeliebt – durch die Forderung nach Anerkennung Abchasiens und Südossetiens. Warum würden die beiden Völker anders behandelt als die Kosovo-Albaner?

In dieser Angelegenheit zögert indes auch Lukaschenko. Listig erklärte er russischen Journalisten, wiewohl sich der russisch-belarussische Staatenbund im »eingefrorenen Übergangszustand« befinde, habe Belarus eindeutig seine Solidarität mit der russischen Position ausgedrückt. Die Frage der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens sei jedoch »viel komplizierter«. Damit werde sich das neue Parlament befassen. Was auch als Warnung an westliche Demokratiewächter gedeutet werden sollte.

* Aus: Neues Deutschland, 27. September 2008


Reifeprüfung in Minsk

Am Sonntag (28. Sept.) wird in Belarus ein neues Parlament gewählt. Für den Westen geht es dabei weniger um Demokratie als um die "richtige" Positionierung in der Kaukasus-Frage

Von Werner Pirker **

Die an diesem Sonntag in der Republik Belarus stattfindenden Parlamentswahlen sind von der Europäischen Union zur demokratischen Reifeprüfung erklärt worden. Für den Fall einer positiven Zensur wurde eine Aufhebung der Sanktionen in Aussicht gestellt. Doch dürfte das Urteil ohnedies bereits feststehen. Es wird im wesentlichen die Befindlichkeit der sich benachteiligt fühlenden Opposition wiedergeben. Doch ganz so streng wird es nicht ausfallen. Es ist sogar durchaus möglich, daß Belarus demokratiepolitische Fortschritte bescheinigt werden. Mit dem tatsächlichen Zustand der Demokratie im Land dürfte das eher wenig zu tun haben. Es ist die vom Kaukasus-Tief geprägte politische Großwetterlage, die es geboten erscheinen läßt, mit Belarus etwas weniger schroff umzugehen, als man das bisher gewohnt war.

Doch auch Minsk sucht seinen außenpolitischen Spielraum durch eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen zu erweitern, um sich dem großen Bruder Moskau nicht völlig ausliefern zu müssen. Denn der ursprünglich von der belorussischen Führung forcierte Reintegrationsprozeß verläuft inzwischen in eine für die Souveränität der Belorussen und die Behauptung ihres Wirtschafts- und Sozialmodells bedrohliche Richtung. Die vom russischen Energiekonzern Gasprom durchgesetzten Preiserhöhungen für Erdgas und Erdöl haben die Abhängigkeit der belorussischen Wirtschaft vom Nachbarn deutlich gemacht und Minsk zu einer Neubestimmung seiner außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Strategie veranlaßt.

Die belorussischen Annäherungsversuche an Brüssel sind nicht neu. In einem Interview für Die Welt hatte Präsident Alexander Lukaschenko im Februar unter dem Eindruck des Moskauer Preisdiktats offen Kritik an Rußland und auch an seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin geübt und sich für eine enge Kooperation mit der EU, eine spätere Mitgliedschaft nicht ausgeschlossen, ausgesprochen. Doch erst nach dem Ausbruch des neuen Kalten Krieges zwischen Rußland und der NATO wurde Lukaschenko Gehör geschenkt. Zu beweisen haben wird sich nicht die Demokratie in Belarus, sondern eine Außenpolitik, die Distanz zu Moskau erkennen läßt.

Man habe, meinte Lukaschenko in einem Gespräch mit der FAZ sarkastisch, den westlichen Standards für Wahlen auf eine Weise entsprochen, die sich bereits außerhalb der Verfassung bewege. Sollte der Westen auch diese Wahl nicht als demokratisch anerkennen, werde es keine weiteren Gespräche mehr geben, fügte er hinzu. Es kann dennoch davon ausgegangen werden, daß die rund 300 OSZE-Beobachter die Wahlen als »nicht im vollen Umfang demokratisch« bewerten werden. Doch dürfte die Kritik diesmal um einiges zurückhaltender ausfallen, als dies bei den Parlamentswahlen 2004 und den Präsidentenwahlen 2005 der Fall war. Durchaus möglich, daß die Beobachter die Formel mit im Gepäck haben, daß sich das Land im Übergang zu einer Demokratie westlichen Typs befindet.

Tatsächlich ist das politische System in der Republik Belarus kein parlamentarisches im Sinn bürgerlich-demokratischer Gewaltenteilung. Es besteht ein starkes Übergewicht der Präsidialmacht und ihres exekutiven Apparates, was in Minsk wie in Moskau im Begriff »Machtvertikale« zum Ausdruck kommt. Präsidialregime sind freilich auch in der »demokratischen Welt des Westens« keine unbekannte Erscheinung. Eine belorussische Besonderheit aber ist das Fehlen einer entwickelten Parteienstruktur. Weder die Machtvertikale noch die Opposi­tion sind als Parteien wirklich präsent. Es gibt zwar eine Reihe von oppositionellen Zusammenschlüssen, die in ihrer Summe aber die nach Macht strebende Anti-Machtvertikale darstellen. Der bürgerliche Idealzustand, die beliebige Austauschbarkeit von Macht und Opposition, die in ihrer Konsequenz auf ein »Einparteiensystem mit Wettbewerbscharakter« (Domeniquo Losurdo) hinausläuft, ist in Belarus (noch nicht) gegeben.

Noch ist das belorussische politische System ein Zwischending aus zivilgesellschaftlichen und korporatistischen, zum Teil in die sowjetische Ära zurückreichenden Elementen. Die Vorstellung der Kandidaten durch die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, Lidija Jermoschina, gibt darüber Auskunft: »89 der 279 Kandidaten sind Mitglieder von Parteien. Davon sind 63 Kandidaten von Parteien, die sich als oppositionell bezeichnen.« Des weiteren führte sie an: »Wir haben 72 Unternehmer, 21 Mediziner, 17 Lehrer, fünf Mitarbeiter der Rechtschutzorgane, 34 gegenwärtige Abgeordnete der Repräsentantenkammer, 30 Staatsbeamte, 15 Rentner, 13 Arbeitslose und andere.«

Das Übergewicht nichtparteigebundener, ihren unmittelbaren Lebensbereich repräsentierenden Kandidatinnen und Kandidaten entspricht sicher nicht den Standards der bürgerlichen Wettbewerbsdemokratie. Für die westliche Demokratieaufsichtsbehörde aber dürfte vor allem von Interesse sein, welche Entscheidung das künftige Parlament von Minsk in der Frage der staatlichen Anerkennung Südossetiens und Abchasiens trifft.

** Aus: junge Welt, 27. September 2008


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