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Marktwirtschaft in Belarus (Weißrussland): "Wir beeilen uns langsam"

Weder Nationalisten noch "Neoliberalisierer" haben bisher Fuß fassen können

Von Hannes Hofbauer*

Die Republik Belarus gilt hier zu Lande als einer der letzten europäischen Staaten, die sich »westlichen Werten« wie Demokratie und Marktwirtschaft verschließen. Die Republik wird mit Sanktionen und ihre Regierungsvertreter werden mit Einreiseverboten belegt, während man sehnlichst auf eine Gelegenheit zur »Ukrainisierung« des Landes hofft. Unser Korrespondent besuchte Belarus just zu der Zeit, als in Kiew die Leidenschaften kochten.

Selbstbewusst sitzt uns Direktor Nikolaj Radoman gegenüber, seine breiten Bauernhände auf die festen Oberschenkel gelegt. Die landwirtschaftliche Kooperative »Snow« gilt als belarussischer Vorzeigebetrieb. 1260 Leute arbeiten hier, etwa 100 Kilometer südwestlich von Minsk, auf 5600 Hektar Land. »Snow« bietet Menschen aus sieben Dörfern Arbeit auf den Feldern, in der Fleisch- und der Zuckerfabrik, als Mechaniker, in der Viehzucht oder auf der Geflügelfarm. 1500 Milchkühe stehen in properen Laufställen, 22000 Schweine harren der Verwurstung, Hühner werden in Tonnen gezählt, ebenso die Getreide- und Zuckerrübenernte. Der Produktivitätssteigerung scheinen, glaubt man den Worten der Managers, schier keine Grenzen gesetzt.

Kolchos »Kalinin« wurde zur Kooperative »Snow«

Flaches Land und fruchtbarer Boden, das sind die Kennzeichen dieser Region um Neswish, dem früheren Herrensitz der Radzivils, einer im Zuge der Sowjetisierung nach England geflohenen Adelsfamilie, deren Schloss auch nach dem Zerfall der Sowjetunion in staatlicher Hand verblieben ist. Aus dem Kolchos »Kalinin« ist mittlerweise die Kooperative »Snow« geworden, die sich nach wie vor in gemeinschaftlichem Besitz befindet. 670 Kollektivisten sind Mitglieder der Kooperative, die nach belarussischem Recht in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde. Die übrigen arbeiten »für Cash«, wie der Direktor sagt. Um Mitglied oder Aktionär der Kooperative zu werden, muss man hier »mindestens drei Jahre hart gearbeitet haben«. Ein persönlicher Qualifikationskoeffizient bestimmt die Höhe des Aktienbesitzes und damit der Dividende, die jährlich – zusätzlich zum Lohn – ausgeschüttet wird. Der Direktorenposten weist den höchsten Koeffizienten aus.

Einen Kapitalmarkt gibt es in der belarussischen Landwirtschaft ebenso wenig wie in der Industrie. Grund und Boden kann nicht gekauft werden, auch von der Kooperative nicht. Alles Land gehört dem Staat, der es für maximal 99 Jahre verpachtet. Ob die Leute, die hier arbeiten, Bauern oder Proletarier sind, wollen wir von Direktor Radoman wissen. »Mitglieder der Kooperative«, gibt er zur Antwort und fügt hinzu, dass ein guter Teil der Genossenschafter in der weiterverarbeitenden Agroindustrie tätig ist. Produziert wird vor allem für den Binnenmarkt, Fleischkonserven von »Snow« finden aber auch in Moskau Absatz.

»Niemals werden wir unser Land an Ausländer verkaufen«, gibt sich Radoman sicher, dass es nicht zu solchen Zuständen kommen wird wie im nahen Litauen, wo ausländisches Kapital dabei ist, alle großen landwirtschaftlichen Einheiten zu übernehmen. Dass sich Präsident Alexander Lukaschenko persönlich nach dem Fortgang von Kooperativen wie jener bei Neswish erkundigt, nimmt der Direktor als Ansporn. Auch bei den Arbeitern in der Fleischfabrik und beim Verantwortlichen für die Rinderzucht gewinnt man den Eindruck, dass die Menschen wissen, was sie dem im Westen als autokratisch verschrienen politischen System zu verdanken haben. Es bietet Schutz vor der EU-europäischen Konkurrenz. Belarus subventioniert seine Landwirtschaft ähnlich wie Brüssel die seine. Pjotr Nikitenko von der Akademie der Wissenschaften in Minsk erklärt dazu, wie wichtig die Beibehaltung des Binnenmarktes gerade in der Agrikultur ist. Auch wenn der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten zurück geht und zur Zeit nur mehr 15 Prozent beträgt, sind es die Menschen vom Lande, die Belarus ernähren. Eine Abhängigkeit vom Ausland hielte Nikitenko für fatal. Deshalb »versucht der Staat, Arbeitsplätze zu erhalten, selbst wenn die Effizienz ein wenig darunter leidet.«

Die Weltbank sieht das ganz anders. In einer von Csaba Csaki verfassten Studie aus dem Jahr 2000 werden radikale Änderungen der landwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gefordert. Kaufrecht für Grund und Boden, »echte« Privatisierung sowie die Aufhebung von staatlicher Preispolitik für Grundnahrungsmittel, Energie und Verkehr, wie sie in Belarus existiert, zählen zu den Eckpfeilern jener Liberalisierung, wie sie überall dort als Allheilmittel gepriesen wird, wo Weltbank und IWF das Sagen haben. Nur so könne die »Überbeschäftigung in der Landwirtschaft« abgebaut werden. Um eine dann überflüssig gewordene Bevölkerung würden sich die Washingtoner Finanzorganisationen freilich nicht mehr kümmern.

Keine Schocktherapie, keine Oligarchen

Das Jahr 1991 traf die Belorussische Sowjetrepublik unvorbereitet. Die Auflösung der Sowjetunion stieß hier wie nirgendwo sonst auf Unverständnis. Eine kleine radikale nationalistische Bewegung konnte weder in Minsk noch auf dem Lande Fuß fassen. Die Bevölkerung blieb gegenüber den überall sonst als modern gepriesenen nationalistischen Sezessionismen skeptisch. Noch fast 15 Jahre später bezeichnet das Oberhaupt des Minsker Stadtsowjets, Wladimir Papkowski, im Gespräch das Jahr 1991 als »die größte Tragödie für Belarus«. Obwohl er sich der an Tragödien reichen Geschichte seiner Stadt bewusst ist. Im Krieg der Wehrmacht wurde Minsk zu 85 Prozent zerstört, der Wiederaufbau gab der sowjetischen Provinzstadt ein imperiales Gepräge, das heute wieder gepflegt wird. Die Gebäude entlang der mächtigen Straßenzüge im Stadtinneren sind fein herausgeputzt, seit Mitte der 80er Jahre verbindet eine U-Bahn die wichtigsten Wohngebiete mit dem Zentrum. Ins Auge sticht die fast peinliche Sauberkeit einer Großstadt, in der auch bei kältesten Wintertemperaturen Putzkolonnen im Einsatz sind, um jedes Papierschnipsel wegzufegen.

Dem Stolz der Wiederaufbaujahre folgte 1986 die Katastrophe von Tschernobyl, die vor allem im Südosten des Landes verheerende Auswirkungen zeitigte. Großflächige Evakuierungszonen wurden mancherorts bis heute zu entsiedelten Gebieten. Die Opfer dieser allesamt nicht von belarussischem Boden ausgegangenen Katastrophen sind zahlreich. Wladimir Papkowski geht davon aus, dass drei von vier Belarussen in irgendeiner Form staatliche Vergünstigungen erhalten, weil sie Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges, Afghanistan-Kämpfer, Tschernobyl-Opfer oder einfach Mindestrentner sind, die z.B. Ermäßigungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln beanspruchen dürfen.

1991 war Belarus jedenfalls mit einem Schlag zu der am stärksten außenhandelsabhängigen Ökonomie der Welt geworden. Eben noch innersowjetische Wirtschaftsbeziehungen wurden in Export- und Importstatistiken gepresst. Dazu die große Transformationskrise. Alexander Jaroschenko, Direktor der makroökonomischen Abteilung im Wirtschaftsministerium, weiß zu berichten, dass die Industrieproduktion in dieser Phase um die Hälfte schrumpfte und eine Hyperinflation von 2000 Prozent das Land heimsuchte. Das Lebensniveau der Bevölkerung sank um 40 Prozent.

Dass es anschließend mit der Wirtschaft wieder bergauf ging, hat freilich nicht nur mit dem »Njet« Lukaschenkos zu der vom IWF geforderten Schocktherapie zu tun, sondern auch mit der starken Anbindung an den russischen Wirtschaftsraum und seine Hauptschlagader, die sibirische Energie.

»Wir beeilen uns langsam«, lautete die Devise der Belarussen auch bei der Privatisierung. Während der Transformationsperiode achteten die politischen Führer in Minsk darauf, die Kernstücke der nationalen Industrie, die seit jeher für den russischen Markt gearbeitet hat, unter staatlicher Kontrolle zu belassen. Das hat den heute geschätzten Effekt, dass anders als in Russland oder in der Ukraine keine schmale Oligarchenschicht entstehen konnte. Auch der Minsker Journalist Nikolaj Tolstik kann dieser staatsgelenkten Politik etwas abgewinnen, meint jedoch, dass nach Jahren der Vorsicht nun eine ökonomische Öffnung des Landes angesagt wäre. »Jetzt könnten wir – anders als in der Zeit der unmittelbaren Transformation, in der ganz Osteuropa alles ausverkauft hat – faire Preise für Firmen in Staatseigentum erhalten.« Genau in dieser Richtung lesen sich auch die offiziellen Broschüren für die Anwerbung ausländischer Investoren.

Der IWF hat sein Büro in Minsk geschlossen

Auf die Unterstützung der internationalen Finanzorganisationen kann Belarus dabei nicht zählen, der IWF schloss Mitte Dezember 2004 sogar sein Büro in Minsk. »Die Beziehungen zum Weltwährungsfonds sind so gut wie eingestellt, zur Weltbank gibt es nur sehr schwache Kontakte«, weiß der Akademie-Ökonom Pjotr Nikitenko. »Das entspricht unserer Stärke und unserer Schwäche gleichermaßen. Unserer Stärke, weil wir uns diese eigenständige Politik bei einer geringen Außenschuld von einer Milliarde US-Dollar leisten können; und unserer Schwäche, weil damit auf der anderen Seite ein hoher Grad der belarussischen Integration in die russische Wirtschaft verbunden ist. Unsere Aufgabe besteht darin, letztere Abhängigkeit zu minimieren.«

Nicht zufrieden, aber zufrieden gestellt

Vom Sozialismus, der keiner war, zum Kapitalismus, der keiner ist

Angesprochen darauf, ob es im heutigen Belarus so etwas gibt, wie ein gesellschaftliches Programm, erhält man in Minsk fast überall die selbe Antwort: »Soziale Marktwirtschaft.« Der Mangel an Demokratie wird – je nach politischer Einschätzung – beklagt oder erklärt. Aber was das soziale Modell unter Lukaschenko betrifft, gehen die Meinungen weit weniger auseinander.

Sozial ist die spezielle Form der belarussischen Marktwirtschaft dort, wo es staatlich festgesetzte Preise für Grundnahrungsmittel wie Milch und Brot, für Energie und Transport gibt, sowie kostenlose Krankenversorgung und Ausbildung, wie das die Menschen aus Sowjetzeiten gewöhnt sind. In anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sind derlei Sozialismus-Reste längst abgeschafft.

Als sozialistisches Land will die führende Elite Belarus allerdings nicht verstanden wissen. Die »Schlüsselrolle des Staates« soll im Gegenteil dazu benützt werden, »das Unternehmertum zu fördern und zu entwickeln«, wie Premierminister Sergej Sidorski in einem Interview für die Zeitschrift »East-West-Forum« zum Besten gibt.

Nur hart gesottene Kommunisten geben sich noch der Vergangenheit hin. Sergej Kostjan von der im Parlament vertretenen Kommunistischen Partei Belarus’ beharrt im Gespräch darauf, dass das Land »zu 90 Prozent sozialistisch« und »eine Volksdemokratie« sei. Der Versuch, soziale Rechte zu sichern, gründet indes ideologisch weniger auf einem auch in Belarus weitgehend diskreditierten Kommunismus, sondern auf der Idee, einen einheimischen Mittelstand zu schaffen. Dieser soll die Basis einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eigenständigkeit bilden, die sich gegen eine Kolonisierung des Landes durch EU-europäische oder russische Interessen zur Wehr setzen kann. Weil ein solcher Mittelstand nur bei sozial einigermaßen stabilen Verhältnissen gedeihen kann, wird der sozialen Kluft, wie sie für andere nachsowjetische Gesellschaften prägend geworden ist, entgegengearbeitet. Mit einer bür-gerlichen Demokratie zu beginnen, ohne eine wirtschaftliche Grundlage für einen nationalen Mittelstand zu schaffen, hieße das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Oder, wie es das Oberhaupt des Minsker Stadtsowjets, Wladimir Papkowski, im Gespräch ausdrückte: »Wir wären noch im zerfallenen Zustand der ersten Umbruchsjahre, wenn wir zuerst mit dem Aufbau der Demokratie begonnen hätten.« »Es geht um die Entstehung einer Mittelschicht«, meint auch Alexander Jaroschenko aus dem Wirtschaftsministerium. »Unsere Politik ist darauf ausgerichtet, große Differenzen zwischen Arm und Reich nicht zuzulassen, sonst gäbe es unversehens Millionen von Menschen, die unter der Armutsgrenze leben müssten, und ein paar Oligarchen, die sich das Land aufteilten.« Gerade weil Belarus keine schockartige Privatisierung zugelassen hat, konnten sich auch keine Krisengewinnler etablieren, die den gesellschaftlichen Reichtum in wenigen Händen konzentriert hätten.

Dass diese Politik – in bescheidenem Rahmen – ihren eigenen Ansprüchen genügt, bezweifeln selbst Oppositionelle nicht. Viktor Tschernow von der »Open Society Foundation« (Stiftung Offene Gesellschaft) erkennt in der Sozialpolitik der Regierung eine der Hauptgründe für die Zersplitterung der Opposition und ihre objektive Schwäche: »Die Menschen sind zwar nicht zufrieden, aber zufrieden gestellt, und zwar mit dem relativen Lebensniveau, das vielleicht das höchste in der Nach-Sowjetunion ist.«

Ganz anders sieht das die oppositionelle Partei der Kommunisten von Belarus unter Sergej Kaljakin, die sich von der Kommunistischen Partei Sergej Kostjans, die auf Regierungskurs segelt, abgespalten hat. Kaljakin spricht von schrecklichen sozialen Zuständen, die an Afrika erinnern, und von »30 Prozent der Familien, die unter der Armutsgrenze leben«. Sein Blick scheint jedoch vom Hass auf die regierungstreuen ehemaligen Genossen getrübt.

* Beide Artikel erschienen am 7. Januar 2005 in der Zeitung "Neues Deutschland".


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