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Der nächste Tiger

Bangladesch hat eine wirtschaftliche Aufholjagd begonnen

Von Wolfgang Pomrehn *

Bangladesch profitiert in letzter Zeit zunehmend von steigenden Löhnen in China. Der Fachinformationsdienst fibre2fashion berichtet von einem Seminar in der Landeshauptstadt Dhaka, auf dem sich Vertreter der Industrie wie auch des Handels angesichts der Entwicklung zuversichtlich zeigten. Bangladesh habe gute Chancen, mehr und mehr Aufträge großer Markeninhaber oder Warenhausketten aus den Industriestaaten an sich ziehen zu können. Die Volksrepublik China werde hingegen zunehmend höherwertige Produkte herstellen. Deren Ökonomen und Produzenten dürften darüber nicht unbedingt traurig sein, denn qualitativ höherwertige Waren sind meist auch mit größerer inländischer Wertschöpfung verbunden.

Die Verlagerung der Textilproduktion führt dabei keineswegs zu einer Konkurrenz zwischen den beiden Ländern. China fördert regelrecht den Abzug arbeitsintensiver Industrien mit geringer Wertschöpfung aus seinen Boom-Regionen an der Küste. Außerdem ist es nach einem Bericht des in Bangkok herausgegebenen Internetmagazins Asia Times Online neben Südkorea der größte Investor in Bangladesch. Erst kürzlich wurde ein Kreditvertrag über 211 Millionen US-Dollar unterschrieben, der zum Aufbau einer modernen Telekommunikation dienen soll. Den wesentlichen Teil der Technik werden voraussichtlich chinesische Hersteller liefern wie etwa Huawei Technology, die weltweite Nummer zwei auf dem Gebiet der Telekommunikationsnetzwerke. Chinesische Unternehmen werden demnächst auch mit dem Bau eines neuen Tiefseehafens in der Nähe von Chittagong beginnen. Außerdem hat Peking Anfang September angekündigt, eine Reihe von Einfuhrzöllen für Waren aus Bangladesch streichen zu wollen.

Die Tendenz der Abwanderung ist für China nicht mehr ganz neu. Schon seit einigen Jahren gibt es Berichte von Hongkonger Unternehmern, die ihre Produktion aus Südchina abziehen und neue Fabriken entweder im chinesischen Inland, wo die Löhne noch niedriger sind, aufmachen oder aber in weniger entwickelten Nachbarländern wie Vietnam. Neben den Löhnen wird dafür mitunter auch der Mangel an Arbeitskräften angeführt. Das gestiegene Lohnniveau führt seit etwa 2006/2007 unter anderem dazu, daß die Textilunternehmen Schwierigkeiten haben, junge Frauen zu finden, die bereit sind, fern der Heimat für einen Hungerlohn zu arbeiten. Das chinesische System der Wanderarbeiter ist zwar sicher noch lange nicht am Ende, hat aber seinen Höhepunkt inzwischen überschritten.

Allerdings berichtet die chinesische Wirtschaftszeitung Caijin, daß die steigende Inflation in der Volksrepublik inzwischen die Reallöhne schrumpfen läßt. Eine Untersuchung in vier Schlüsselbranchen in 15 Städten habe ergeben, daß im Vergleich zum Juni 2010 die realen Löhne in diesem Sommer um fünf Prozent gesunken seien. Die Entwicklung scheint aber sehr neu zu sein, denn im Vergleich zum Januar 2010 liegen die realen Einkommen noch um ein Prozent höher.

Unterdessen hat Bangladesch, das bisher zu den ärmsten Ländern gehörte, eine beachtliche Entwicklung durchlaufen. Die Alphabetisierungsrate konnte deutlich gesteigert werden, und im letzten Jahrzehnt erreichte das Bruttoinlandsprodukt meist Wachstumsraten zwischen fünf und sechs Prozent. Entsprechend hat sich die jährliche Wirtschaftsleistung pro Kopf der Bevölkerung trotz deren kräftigen Wachstums in dieser Zeit nahezu verdoppelt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist zwischen 2000 und 2009 um fast vier Jahre auf immerhin inzwischen 68,3 gestiegen, die Armutsrate ist gesunken. Nach Angaben der Weltbank lebten 2010 noch 46,8 Millionen der knapp 150 Millionen Bangladeschis in Armut, das heißt von weniger als zwei US-Dollar pro Tag. 2005 waren es noch 60 Millionen gewesen.

Nach dem Vorbild vieler anderer asiatischer Erfolgsgeschichten setzen Wirtschaft und Regierung in Bangladesch ganz auf den Export. Und so wie auch zuvor erst Japan, dann Südkorea, Taiwan sowie Singapur und schließlich China im ersten Schritt Kapital in arbeitsintensiven Sektoren akkumuliert haben, um darauf ihre weitere Entwicklung aufzubauen, so versucht auch Bangladesch, zunächst einmal auf die Textilbranche zu setzen.

Offensichtlich mit Erfolg: In den zwölf Monaten von Juli 2010 bis Juli 2011 legten Bangladeschs Textilexporte um 43 Prozent auf 18 Milliarden US-Dollar zu.

* Aus: junge Welt, 4. Oktober 2011


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