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Im Stechschritt

Tahmima Anam über den Kampf einer Frau gegen die Brutalität der pakistanischen Armee

Von Gerhard Klas *

Liebe und Revolution sind die Ingredenzien des Romans »Zeit der Verheißungen« der 35jährigen Tahmima Anam. Das seit seinem Erscheinen 2007 in mehr als zwanzig Sprachen übersetzte Buch spielt vor dem Hintergrund eines der vergessenen Genozide des 20. Jahrhunderts: dem der westpakistanischen Armee an der Bevölkerung des heutigen Bangladesch.

Dhaka, 1971. Im beschaulichen Mittelschichtsstadtteil Dhanmondi lebt die Muslima Rehana Haque ihren Alltag, mit nachbarschaftlichen Kaffeekränzchen und ihren hinduistischen Untermietern. Die Mutter zweier Kinder – Maya und Sohail – ist glücklich, daß die beiden wieder bei ihr leben. Als ihr Mann vor zwölf Jahren starb, mußte sie ihre Kinder auf ungewisse Zeit ins westpakistanische Lahore geben, in die Obhut des Bruders. Einfühlsam beschreibt die Schriftstellerin Tahmima Anam in ihrem Erstlingswerk das Trauma dieser gerichtlich verfügten Zwangstrennung und deren tiefe Symbolik: die Bevormundung des damaligen Ostpakistan durch den westlichen Teil des Landes und die dortige Hauptstadt Islamabad. Ihre Kinder, mittlerweile als Studierende an der Universität Dhaka eingeschrieben, hängen sich Poster von Che Guevara ins Zimmer und engagieren sich für die Befreiungsbewegung. In Dhaka erleben sie den Auftakt der brutalen Unterdrückung durch die pakistanische Armee. Er richtete sich vor allem gegen die rebellierenden Studenten; über den Uni-Campus rollten Panzer. Die pakistanischen Soldaten schossen auf jeden und jede, die sie als »Hindus« identifizierten.

Mit der Operation »Searchlight«, die am 26.März 1971 begann, wollte die westpakistanische Regierung die Unabhängigkeitsbewegung im Ostteil auslöschen. Allein an der Universität in Dhaka tötete die pakistanische Armee mehrere hundert Studenten. Rehana Haque, die Protagonistin des Romans, verliert ihre Kinder ein zweites Mal, diesmal an die Mukti Bahini, die Guerilla, die sich gegen die Unterdrückung zur Wehr setzt. Tahmima Anam ist weit davon entfernt zu glorifizieren. Sie beschreibt das Unbehagen der Mutter, etwa als diese ihre Tochter Maya dabei sieht, wie sie im Stechschritt marschiert, wie sie die Beine weiter hochreißt als ihre Kommilitoninnen und die Gewehrattrappe aus Holz anlegt.

Rehana Haque steht dem Befreiungskampf zwar nicht ablehnend gegenüber, bleibt aber gefangen in der Sorge um die Sicherheit der Familie, die ihrem verstorbenen Ehemann so wichtig war. Bis sie schließlich wegen der Liebe zu ihren Kindern Partei ergreift: Erst läßt sie ihren Sohn Sohail Waffen auf dem Grundstück verstecken, dann beherbergt sie einen verwundeten Anführer der Rebellen über mehrere Monate, riskiert bei der Befreiung eines gefolterten Deserteurs ihr Leben und verläßt schließlich ihr vertrautes Zuhause, um sich in den Lagern bei Kalkutta um die vielen Millionen Vertriebenen zu kümmern. Auch wenn Tahmima Anam Folteropfer beschreibt, wirkt das nicht etwa blutrünstig, sondern auch hier behält sie die Perspektive der Mutter bei, zeigt ihre mitfühlende und erschütterte Gefühlswelt.

Rehana Haque läßt sich von der Brutalität der pakistanischen Armee nicht abschrecken. Aus der einfachen Hausfrau wird eine Heldin, von der Schriftstellerin Tahmima Anam wird diese Weg alles andere als geradlinig beschrieben. Das Buch endet im Dezember 1971: Mit dem Sieg der Bengalen – Dank der Unterstützung der Inder – über die pakistanische Armee. Auch für die Hauptprotagonistin endet das Buch gut, sie wird zu einer Art Gegenstück der Mutter Courage: Weil Rehana Haque sich am Befreiungskampf beteiligt, rettet sie ihre Kinder. Brechts Mutter Courage hält sich heraus, macht mit dem Krieg und dem Elend Geschäfte und verliert schließlich ihre drei Kinder. Tahmima Anam hat das Buch ihren Eltern gewidmet, die selbst am Befreiungskampf beteiligt waren. Die in London lebende Anthropologin führt ihre Leser tief hinein in ein Kapitel der jüngeren Geschichte Südasiens, das in Bangladesch noch sehr lebendig ist. Im Westen gehört es trotz seiner Tragweite – die pakistanische Armee tötete innerhalb eines Jahres über eine Million Menschen und trieb zehn Millionen in die Flucht – zu den vergessenen Kapiteln der Geschichte.

Tahmima Anam: Zeit der Verheißungen. Insel Verlag, Berlin 2010, 318 Seiten, 19,80 Euro * Aus dem Englischen von Anke Carolin Burger

* Aus: junge Welt, 15. Juli 2010


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