Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Staatsvertrag von 1955 – ein zweifacher Friedensvertrag

Österreich begeht den 50. Jahrestag mit gemischten Gefühlen

Von Hans Hautmann*

Der 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Staatsvertrags gibt Anlass zu Betrachtungen, die für die aktuellen politischen Auseinandersetzungen um den Weg, den Österreich seit einiger Zeit und gegenwärtig beschreitet, von Bedeutung sind. Lässt man nämlich die bisherigen „staatsoffiziellen“ Aktivitäten im Gedenkjahr 2005 Revue passieren, ist unschwer zu erkennen, dass das, was zum Staatsvertrag wirklich zu sagen wäre, der Öffentlichkeit entweder verschwiegen oder ihr simplifiziert, verkürzt, auf die eigenen Interessen zurechtgebogen dargeboten wird.

Der „Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“, wie sein eigentlicher Titel lautet, ist ein Friedensvertrag im doppelten Sinne des Wortinhalts: einerseits bezogen auf eine bestimmte Periode der österreichischen Vergangenheit, die er beendete, andererseits bezogen auf die Zukunft, die österreichische Entwicklung ab 1955. Dies kommt bereits in der Präambel zum Ausdruck, wo es heißt, dass die Signatarstaaten UdSSR, USA, Großbritannien, Frankreich und Österreich den Staatsvertrag unter anderem auch deshalb abschließen, um „zur Wiederaufrichtung des Friedens in Europa bei(zu)tragen“. Konkretisiert wurde die Etablierung Österreichs als Friedensrepublik durch die Artikel 12 bis 19 des Staatsvertrags, deren Bestimmungen generell darauf hinauslaufen, mit dem (kurze Zeit später auch neutral gewordenen) Österreich eine militärisch verdünnte Zone in Europa zu schaffen.

Militärisch verdünnte Zone in Europa

Der Charakter des Staatsvertrags als Friedensvertrag hat zunächst einmal etwas mit der Verstrickung Österreichs in den Zweiten Weltkrieg an der Seite des Aggressors, Hitler-Deutschlands, zu tun. Er heißt nur deshalb nicht Friedensvertrag, weil im Fall Österreichs besondere Umstände walteten, Österreich aus der Sicht der Alliierten unter den Kriegsgegnern eine Sonderstellung einnahm. Diese Sonderstellung fußte auf der Tatsache, dass Österreich im September 1939, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, als selbständiger Staat und völkerrechtliches Subjekt nicht mehr vorhanden war und deshalb auch nicht als kriegführender Feindstaat wie z.B. Ungarn oder Rumänien angesehen werden konnte. Die Moskauer Außenministerkonferenz vom Oktober 1943 bezeichnete in der Deklaration über Österreich die Besetzung im März 1938 als „null und nichtig“ und verlieh dem Wunsch Ausdruck, „ein freies, unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen“. Damit proklamierte die Anti-Hitler-Koalition die Befreiung Österreichs von deutscher Fremdherrschaft als eines ihrer Kriegsziele. Österreich war damit ein zu befreiendes Land analog der Tschechoslowakei, Belgien, Polen oder Jugoslawien. Gleichzeitig enthielt die Moskauer Deklaration einen Passus folgenden Wortlauts:

„Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Krieg an der Seite Hitlerdeutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.“

Diese Verantwortung bestand aus der Sicht der Alliierten darin, dass Hunderttausende Österreicher als Offiziere und Soldaten der Deutschen Wehrmacht an den Eroberungsfeldzügen Hitlers bis zum Atlantik, zum Nordkap und nach Stalingrad teilgenommen hatten, um fremde Länder und Völker auszuplündern und zu repressieren. Weiters bestand die Verantwortung darin, dass Österreich für den deutschen Imperialismus ein ruhiges und ungefährdetes Hinterland darstellte, das seine ökonomischen und menschlichen Ressourcen der deutschen Kriegswirtschaft, Rüstungsindustrie und Kriegsmaschinerie ungehindert zur Verfügung stellte. Deshalb die Aufforderung in der Moskauer Deklaration, diesen Zustand durch Ausweitung und Steigerung von Widerstandsaktionen zu beenden.

Offizielle Geschichtsklitterung

Bekanntlich ist es dazu aber bis zum Kriegsende nicht, und wenn ja, nur in bescheidenem Ausmaß gekommen. Dieser fehlende eigene Beitrag der Österreicher zur Abschüttelung der deutschen Fremdherrschaft konnte von den Alliierten unmöglich ignoriert oder gar honoriert werden, was dazu führte, dass die Zwitterstellung Österreichs als ein sowohl zu befreiendes als auch zu besiegendes Land erhalten blieb und aus der Sicht der Siegermächte die vierfache Besetzung des Landes notwendig machte. Ein ganzer, sehr langer und bis in die Einzelheiten gehender Abschnitt des Staatsvertrags, der Teil IV. („Aus der Krieg herrührende Ansprüche“), der sich auf die deutschen Vermögenswerte in Österreich und deren Beschlagnahme durch die Sowjetunion bezieht, hat ebenfalls etwas mit diesem Faktum zu tun.

Im üblichen Geschichtsbild der Durchschnittsösterreicherinnen und –österreicher, geprägt von den Herrschenden, sieht das ungefähr so aus: Österreich wird 1938 schuldlos und von allen europäischen Mächten im Stich gelassen zum ersten Opfer Hitlerscher Aggression; schweres Leid und furchtbare Entbehrungen für die Menschen unseres Landes im Zweiten Weltkrieg (gemeint sind die Bombenangriffe, die gefallenen Soldaten usw.); im Jahr 1945 befreit (neuerdings von offizieller Seite bereits nicht mehr unter Gänsefüßchen gesetzt, sondern nur noch von der extremen Rechten), aber nicht frei; der Leidensweg Österreichs dauert durch die Viermächtebesatzung fort, insbesondere durch die Anwesenheit der sowjetischen Besatzungstruppen; schwer muss das Land zehn Jahre lang um seine Freiheit ringen und dafür wegen der Existenz der USIA-Betriebe und für die Ablöse des ehemaligen deutschen Eigentums an die Sowjetunion, einen hohen Preis bezahlen; der Staatsvertrag bringt uns endlich die Freiheit und ist deshalb schätzenswert; gleichzeitig enthält er aber Bestimmungen, die den Handlungsspielraum Österreichs beschränken und vor allem der kommunistischen Sowjetunion Handhaben bieten, um Druck auf Österreich auszuüben – siehe den Einspruch gegen den Beitritt Österreichs zur EWG Anfang der sechziger Jahre, und anderes mehr.

Demokratisch-antifaschistischer Verfassungsauftrag

In Wahrheit ist Österreich mit dem Staatsvertrag durchaus glimpflich davongekommen. Stellt man in Rechnung, welche Rolle die Österreicher und konkret die ökonomischen Nutznießer und kollaborierenden Profiteure des NS-Systems bei uns im Zweiten Weltkrieg wirklich spielten, dann sind die Auflagen des Staatsvertrags sogar moderat. Mehr noch: die wichtigsten Bestimmungen sind solcher Art, dass sie von jedem mit einer ehrlichen demokratischen Gesinnung als positiv und begrüßenswert eingeschätzt werden müssen.

Dazu zählen diejenigen Bestimmungen, die 1964 zu Verfassungsgesetzen erhoben wurden und damit Bestandteil des geltenden österreichischen Verfassungsrechts sind. Es sind das die Artikel 6 (über die Menschenrechte), 7 (über die Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten), 8 (über die demokratischen Einrichtungen) und 9 (über die Auflösung nazistischer Organisationen) des Staatsvertrages.

Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass der Staatsvertrag die Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten an die Spitze stellt. Österreich ist dadurch völkerrechtlich verpflichtet worden, seine demokratischen Einrichtungen, also seine demokratisch legitimierte Regierung, freie Wahlen und freien Zugang zu den öffentlichen Ämtern zu gewährleisten.

Und in Verbindung mit Artikel 9 (Auflösung nazistischer Organisationen) wird das Prinzip der politischen Freiheit im antifaschistischen Sinn konkretisiert: die politische Freiheit findet ihre Grenze bei faschistischen bzw. solchen Bestrebungen, die gegen die Demokratie gerichtet sind, auch wenn sie im Weg der Gesetzesänderung und nicht mit Gewalt ihre Ziele erreichen wollen.

Verhinderung militaristischer Tätigkeit und Propaganda

Überhaupt verpflichtet der weit gefasste Inhalt des Artikels 9 Österreich, aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben alle Spuren des Nazismus zu tilgen, um zu gewährleisten, dass der Faschismus nicht in irgendeiner Form wiedererstehen kann. Er bringt auch die historische Erfahrung zum Ausdruck, dass der Militarismus stets der Weggefährte des Faschismus war, und verpflichtet Österreich daher, jede militaristische Tätigkeit und Propaganda zu verhindern.

Die österreichische Verfassungsordnung der 2. Republik ist also auf keinen abstrakten Pluralismus orientiert, sondern ist klar demokratisch-antifaschistisch strukturiert. Es kann daher wahrlich nicht als Ruhmesblatt für Österreich gelten, dass ein Artikel des Staatsvertrags, der Artikel 7 (Minderheitenschutz), bis heute seiner Verwirklichung und Einlösung harrt.

Bekanntlich hat die österreichische Bundesregierung gleich nach dem Ende des sozialistischen Staatensystems in Europa mehrere Artikel des Staatsvertrags, darunter die Auferlegung des Verbots für bestimmte Waffen, für obsolet erklärt, und im Zuge des Beitritts Österreichs zur EU im Jahr 1995 ist massiv auf die Obsoleterklärung des Staatsvertrags in seiner Gesamtheit hingewirkt worden. Der heutige Nationalratspräsident Andreas Khol hat damals den Staatsvertrag als nur noch „anbetungswürdiges Tabernakel der Verehrung“ bezeichnet, das keinerlei inhaltliche Aktualität mehr besitze.

Man ist dann doch davon abgekommen, einen solchen Schritt zu setzen, wohl deshalb, weil man sich bewusst wurde, damit außenpolitisch ein falsches Signal zu geben. Mögen zwar bestimmte Teile der militärischen Bestimmungen des Staatsvertrags vier Jahrzehnte nach der Unterzeichnung nicht mehr aktuell gewesen sein (z.B. das Verbot der Dienstleistung ehemaliger Mitglieder nazistischer Organisationen in den österreichischen Streitkräften), so war dennoch die Obsoleterklärung der Artikel 13 und 22 Ziffer 13 durch die österreichische Bundesregierung vom 6. November 1990 bedenklich. Die Initiative kann aus heutiger Sicht nur als „Morgengabe“ an die EU interpretiert werden, um dem geplanten Vollbeitritt Österreichs Steine aus dem Weg zu räumen.

Die Fundamente der österreichischen Staatlichkeit, festgeschrieben 1945 und 1955, stehen in einem unauflöslichen politischen Zusammenhang und lauten: Unabhängigkeit, Demokratie, Antifaschismus, Antimilitarismus und Neutralität. Sie sind durch die Unterordnung Österreichs unter eine sich – auch militärisch – herausbildende Supermacht EU mit ganz offensichtlichen imperialistischen Aspirationen zuhöchst gefährdet. Sie zu verteidigen ist nur möglich als politischer, ökonomischer und sozialer Kampf gegen die herrschenden Eliten und Wirtschaftsmächtigen bei uns und in der Europäischen Union.

* Univ. Prof. Dr. Hans Hautmann ist Vorstand des Instituts für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Linz (Österreich).

Den Beitrag hat uns freundlicherweise die Redaktion der Zeitschrift "guernica" zur Verfügung gestellt: guernica 4/2005 (Zeitung der Werkstatt Frieden & Solidarität, www.werkstatt.or.at)



Zur "Österreich-Seite"

Zur Neutralitäts-Seite

Zurück zur Homepage