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Mit Walzerklängen und Neoliberalismus ins neue Jahr

Schüssel: Neue "Vertrauensbasis" zwischen Bürgern und EU nötig

Von Hannes Hofbauer, Wien*

Bis weit in den Morgen des 1. Januar hinein tanzten die Gäste zu Klängen von Johann Strauss und Robert Stolz. Zum Jahreswechsel bot die Wiener Hofburg dem traditionsreiche Kaiserball die Heimstatt. Die Delegationen der Europäischen Union werden erst am 9. Januar die ehemalige Habsburger-Residenz bevölkern. Bis dahin wird der Blumenschmuck der Ballsaison durch Anlagen für Simultanübersetzungen und Kontrollschranken für die Sicherheit ersetzt sein.

250 Jahre Wolfgang Amadeus Mozart und 150 Jahre Sigmund Freud will Österreich 2006 feiern, dazwischen wird man auch die gebührende Ernsthaftigkeit finden, den EU-Vorsitz ohne großen Schaden über die politische Bühne zu bringen. Das mag sich Bundeskanzler Wolfgang Schüssel von der ÖVP gedacht haben, als er am 30. Dezember dem staatlichen Radiosender Ö 1 ein ausführliches Interview gab. Nur 32 Prozent der Österreicher glauben derzeit fest an die Sinnhaftigkeit der EU-europäischen Integration. Sie bilden damit das Schlusslicht der EU-25, was die Akzeptanz der Brüsseler Bürokratie betrifft. Entsprechend wichtig war es Schüssel, die Notwendigkeit einer neuen »Vertrauensbasis« zwischen Bürgern und EU zu betonen.

Desgleichen forderte er die Oppositionspartei SPÖ auf, während des nächsten Halbjahres »an einem Strang zu ziehen«. Ganz nach dem Motto, keine Parteien, sondern nur mehr die Brüsseler Integrationsbehörden zu kennen. Die Sozialdemokraten dürften es ihm leicht machen, ihre Funktionäre sind ebenso auf Pro-EU-Kurs wie die des Bündnisses Zukunft Österreich (BZÖ), mit dem Schüssel in einer Koalition sitzt. Dem BZÖ sind allerdings jüngst die Wähler scharenweise davongelaufen, besser: Sie haben sich – anders als das BZÖ – nicht von der FPÖ getrennt, die einst im Jahr 2000 die rechtsliberale Wende in Österreich mitverantwortet hat.

Auf die rechtsliberalen Tugenden des neuen EU-Vorsitzlandes Österreich verweist in aufdringlicher Weise auch die »Austrian Business Agency« in einer Pressemeldung vom 15. Dezember: Steigende Exportquote, sinkende Abgabenquote und Körperschaftssteuer, höhere Produktivität und niedrigere Lohnstückkosten werden darin gefeiert, also ob es außerhalb der Welt von Investoren nur noch störende Mitesser gäbe. Unter »Hinweis für die Redaktion« ist dann noch vermerkt: »Die Austrian Business Agency ... berät interessierte Unternehmen kostenlos bei der Standortwahl...« EU-Ratspräsidentschaft als Mittel der Kapitalanlockung.

Schief gegangen ist dagegen der Auftrag an 75 europäische Künstler, das Thema »Europäische Union« in Plakatform darzustellen. Das offizielle Österreich und die Bürgerpresse waren empört, als sie gewahr wurden, dass auch kritische Bilder zum Brüsseler Wirtschaftswahn ausgehängt worden waren. Ausgerechnet eine serbische Feministin, Tanja Ostojic, konnte es sich nicht verkneifen, das hehre Symbol der zwölf goldenen Sterne auf blauem Grund einer halbnackten Frau als Slip überzuziehen, die mit weit gespreizten Beinen den EU-europäischen Verehrer empfängt. Und der Spanier Carlos Aires bildete drei nackte Darsteller mit Masken von Georg W. Bush, Queen Elizabeth und Jacques Chirac in eindeutigen Posen ab. Prostitution und (sexualisierte) USA-Dominanz dürfen in Zusammenhang mit der Europäischen Union nicht ins Bild gesetzt werden: Die beiden Plakate fielen noch vor dem 1. Januar 2006 der Zensur zum Opfer.

Schätzungsweise 50 bis 100 Millionen Euro wird die halbjährige EU-Ratspräsidentschaft den österreichischen Steuerzahler zusätzlich kosten. Mit zwölf informellen Ministertreffen, über alle Bundesländer verteilt, wird versucht werden, mehr oder weniger auffällig Werbung für den Österreichtourismus in die Welt hinauszutragen. 2400 Sitzungen, die meisten davon in der Wiener Hofburg, sollen den Eindruck einer dichten Arbeitsatmosphäre vermitteln, bei der die Spitzenthemen EU-Erweiterung, Dienstleistungsrichtlinie und Neustart der EU-Verfassung zur Diskussion stehen werden. Im Mai ist ein Gipfel mit lateinamerikanischen und karibischen Staaten geplant, der Termin eines EU-USA-Gipfels steht noch nicht fest.

Unter den Teppich dürfte gekehrt werden, dass Österreich auch über 50 Jahre nach dem Staatsvertrag die sich daraus ergebenden Verpflichtungen gegenüber seiner slowenischsprachigen Volksgruppe, unter anderem die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln in Kärnten, nicht erfüllt hat. In der letzten Dezemberwoche des Jahres 2005 hat – wieder einmal – ein Spruch der Verfassungsrichter diesbezüglich für Zündstoff gesorgt. Kärnten und Wien sind neuerlich aufgefordert worden, zusätzliche slowenische Ortsnamen im zweisprachigen Gebiet anbringen zu lassen. Jörg Haider als Landeshauptmann in Kärnten und Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler in Wien reagieren vorerst nicht adäquat auf den höchstrichterlichen Spruch.


Zahlen und Fakten
  • Österreichs Wirtschaftswachstum lag 2005 bei 1,7 Prozent, für 2006 werden laut Eurostat 1,9 Prozent erwartet. Die Arbeitslosigkeit ist mit 4,8 Prozent im EU-Durchschnitt vergleichsweise niedrig. Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 27 100 Euro pro Kopf der Bevölkerung rangiert Österreich unter den ersten fünf Staaten in der EU, im weltweiten Vergleich der Industriestaaten liegt es auf dem 7. Rang.
  • Im Jahre 2004 machten Warenexporte einen Anteil von 38 Prozent des BIP aus (im EU-Durchschnitt 28,6 Prozent). In Wien führt man das auch »auf die frühzeitige Wahrnehmung der Chancen auf den zentral- und osteuropäischen Märkten zurück«. Neben Banken seien es vor allem Klein- und Mittelbetriebe, die dort investieren, Produktionsstandorte aufbauen und Handelsbeziehungen pflegen. Das Volumen der österreichischen Direktinvestitionen in Osteuropa betrug 2004 rund 3,126 Milliarden Euro. Österreich ist damit pro Kopf der Bevölkerung der größte Investor in Mittel- und Osteuropa.
ND


* Aus: Neues Deutschland, 2. Januar 2006


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