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Suizid im Flüchtlingslager

Chef der australischen Ärzteschaft kritisiert Asylpolitik. Selbstverletzungen von Internierten nehmen zu

Von Thomas Berger *

In Australien wächst der Druck auf die Regierung, eine Abkehr vom derzeit praktizierten System der zwangsweisen Internierung von Bootsflüchtlingen vorzunehmen. Nicht nur geben neue Untersuchungen alarmierende Hinweise auf steigende Fälle von selbstgefährdenden Aktionen. Auch der Chef der australischen Ärzteschaft hat sich nun explizit gegen die gängige Praxis ausgesprochen, auf dem Meeresweg ankommende Asylsuchende für den Zeitraum der Bearbeitung ihres Antrages in abgelegenen Lagern unterzubringen.

Steve Hambleton, der Vorsitzende der Australian Medical Association (AMA), nutzte in der vergangenen Woche das jährliche Fest der AMA, um in Anwesenheit der sozialdemokratischen Premierministerin Julia Gillard wie auch des konservativen Oppositionsführers Tony Abbott offene Worte der Mahnung und Kritik an die beiden Spitzenpolitiker zu richten. Nachdrücklich forderte er die Vorsitzenden der größten Parteien auf, nach einer Lösung zu suchen, die mit dem bisherigen System breche.

Die Zwangsinternierung, so Hambleton in aller Deutlichkeit, sei »schädlich für die physische und mentale Gesundheit« der in den Einrichtungen festgehaltenen Menschen. Was generell auf Erwachsene zutreffe, hätte bei Kindern ein noch größeres Gefährdungspotential. Zwar hatte die Regierung nach Protesten von Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen schon vor knapp einem Jahr erklärt, Minderjährige nicht mehr in den Lagern unterbringen zu wollen. In ein verbindliches Gesetz will die regierende Labor Party solche Zusicherungen aber nicht gießen.

Ein Sonderkomitee der Einwanderungsbehörde hat unterdessen eine Statistik vorgelegt, deren Zahlen Hambletons Kritik und Appell eindrucksvoll untermauern. So gab es in den zwölf Monaten bis Ende Juni 1132 Fälle von Selbstverletzungen – dies bedeutet eine Verzwölffachung gegenüber den 90 Fällen im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Sechs Todesfälle von Lagerinsassen sind aktenkundig, fast alle davon als Selbstmord einzustufen. Die Intensität und Häufigkeit von Verzweiflungstaten der Internierten hat eindeutig zugenommen. Darauf deuten auch 1320 Hungerstreikende hin. Die Verweigerung der Nahrungsaufnahme ist die häufigste Form, Protest gegen die Zustände in den Einrichtungen auszudrücken. 93 Menschen kamen der Erhebung zufolge in psychiatrische Behandlung, 2473 mußten auf stationäre Weise medizinisch versorgt werden.

Es ist nicht allein die Überfüllung, unter der vor allem das Hunderte Kilometer vor dem australischen Festland liegende Lager auf Christmas Island leidet. Dort sind mit derzeit 759 weiterhin mehr Menschen untergebracht als vorgesehen. Probleme bereiten auch die Einsamkeit, Ungewißheit und Untätigkeit. Gerade die Rekordzahl der Neuankömmlinge im Jahr 2010 hat die Bearbeitungsdauer der Asylanträge wieder ansteigen lassen. Mit Stichtag 30. Juni wurden insgesamt 6403 Flüchtlinge in den Internierungslagern gezählt, die meisten kommen aus ­Afghanistan, dem Iran, Sri Lanka und weiteren südasiatischen Staaten. Anders als ihre konservative Vorgängerin setzt die Labor-Regierung auch auf kleinere Einrichtungen in direkter Anbindung zu Städten. Dies hat allerdings mehrfach Proteste der lokalen Bevölkerung ausgelöst

* Aus: junge Welt, 22. August 2011


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