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Mächte und Konflikte im asiatisch-pazifischen Raum

An China und Indien kommt niemand vorbei - Und die USA? Eine Analyse mit vielen Fragezeichen

"Prekäre Machtbalance im Fernen Osten" war ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung im November 2000 überschrieben. Berichtet wurde darin über ein Seminar über Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum, das die Bonner Bundesakademie für Sicherheitspolitik veranstaltet hatte. Der Blick in das 21. Jahrhundert, das bekanntlich das "pazifische" Jahrhundert werden sollte, fiel widersprüchlich aus. Zwar wurde den Mächten der asiatisch-pazifischen Region ein großes Maß an ökonomischem Entwicklungspotenzial zugetraut, aber dessen Verwirklichung ist von einer Reihe Unwägbarkeiten abhängig, die heut eben kaum zu prognostizieren sind. Fest steht nur, dass China dabei eine wichtige Rolle spielen wird. Der Tagungsbericht zeugt sowohl von der Unsicherheit der wissenschaftlichen Analyse, als auch von der Unentschiedenheit des Autors, künftige Entwicklungslinien als solche zu erkennen bzw. anzuerkennen. Zumal es dabei nicht nur um ökonomische, sondern um komplexe soziale und politische, auch um sicherheitspolitische Fragen geht. Wir dokumentieren den Tagungsbericht ohne weiteren Kommentar, auch wenn uns die ein oder andere Prämisse (z.B. die Gefährdung der Region durch China auf der einen Seite und die wie selbstverständlich angenommene stabilisierende Funktion der USA auf der anderen Seite) nicht einleuchtet.

Trotz glänzenden langfristigen Perspektiven bereitet der asiatisch-pazifische Raum Sicherheitsexperten Sorgen. Neben Konflikten um Seewege, Erdöl und ethnische Selbstbestimmung gefährdet die Expansion Chinas die Machtbalance in der Region. cme. Können die Länder des asiatisch-pazifischen Raumes ihr Wachstumspotenzial verwirklichen, oder werden Konflikte die Region destabilisieren und in ihrer Entwicklung zurückwerfen? Welche Interessen hat der Westen, und wie sollte er agieren? Mit diesen Fragen hat sich ein Seminar der Bonner Bundesakademie für Sicherheitspolitik beschäftigt. Die Prognose eines «pazifischen Jahrhunderts» wurde vor allem von Wirtschaftsexperten wie dem Duisburger Professor Taube untermauert. Er führte die glänzenden Aussichten der Region zum Grossteil auf das enorme Wachstumspotenzial von China zurück. Laut einer Analyse der Investmentbank Goldmann Sachs könnte die Volksrepublik binnen 20 bis 30 Jahren zur weltgrössten Handelsnation und zum wichtigsten Akteur auf den Finanzmärkten aufsteigen. Gleichzeitig wiesen die Experten darauf hin, dass gerade die wirtschaftliche Dynamik des bevölkerungsreichsten Landes der Erde die innere Stabilität Chinas und die Machtbalance in der Region gefährdet.

Arbeitslosigkeit und Migration

Im Zuge des wirtschaftliche Strukturwandels in China haben die Spannungen zwischen den prosperierenden Küstenregionen und den rückständigen Provinzen im Landesinneren zugenommen.Der schnelle Anstieg der Arbeitslosigkeit vergrösserte das Millionenheer von Wanderarbeitern, die der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen sind. Schliesslich untergräbt die grassierende Korruption in Betrieben und Behörden die Legitimität der Zentralgewalt in Peking. Nach Einschätzung Professor Taubes werden diese Spannungen durch den bevorstehenden Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation noch verstärkt, da etwa 20 bis 30 Prozent der Belegschaft der grossen Staatsbetriebe entbehrlich sind. Da die kommunistische Partei Chinas ihren ideologischen Überbau weitgehend aufgegeben hat und die Schaffung einer «sozialistischen Marktwirtschaft» anstrebt, beruht ihr Herrschaftsanspruch vor allemauf der Schaffung von Wohlstand durch Wirtschaftswachstum. Alternativen Organisationsformen, wie der Falun-Gong-Meditationsbewegung, begegnet die KP mit harten Repressionen. Nach aussen schlägt China nicht nur gegenüber der abtrünnigen Provinz Taiwan einen Grossmachtstonan. Die Rhetorik dient nicht nur der innenpolitischen Stabilisierung, sondern widerspiegelt sichauch in einer Steigerung der Verteidigungsausgaben um vorsichtig geschätzte 13 Prozent. Auch zwei mögliche Rivalen Chinas rüsten auf. Indien, das Land mit rund einer Milliarde Bürgern, erhöhte seinen Rüstungsetat um mehr als ein Viertel und demonstrierte 1998 seinen Status als Nuklearmacht vor allem gegenüber China. Auch Japan könnte binnen kürzester Zeit eine Atommacht werden. Aufgeschreckt von chinesischen und nordkoreanischer Raketentests, entwickelt der Inselstaat einen eigenen Aufklärungssatelliten, modernisiert seine von der Verfassung eigentlich verbotene Armee und investiert in den Bau von drei Flugzeugträgern bis 2010.

Risiko eines Rüstungswettlaufs

Sehen wir also in Europas Vergangenheit Asiens Zukunft, wie kürzlich der Politologe Aaron Friedberg in einem Artikel fragte?[1] In der Tat drängen sich Parallelen zu den Rivalitäten in Europa vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges auf. Allerdings erfolgte nach Meinung der Experten ein Grossteil der Rüstungsausgaben von einem niedrigen Niveau aus und diente vor allem der Modernisierung. Zumindest mittelfristig sei China nicht in der Lage, eine Invasion Taiwans militärisch zu gewinnen. Zudem wurde argumentiert, dass der Flächenstaat nicht auf ähnliche Weise expansionistisch ist, wie es Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Demnach ist China weniger als ein Land denn als eine Kultur zu begreifen, die sich durch Handel und Migration, nicht durch Krieg ausbreitet. China erhebt demnach keinen Anspruch auf regionale Vorherrschaft, sondern hat lediglich ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, das sich aus seiner innenpolitischen Instabilität und der Wahrnehmung von Bedrohung durch benachbarte Staaten sowie die Nato erklärt.

Neben der Hauptfrage der Einbettung des wachsenden China und der Ansprüche auf Taiwan, machen eine Reihe kleiner Konfliktherde den Sicherheitsexperten Sorgen. Nicht nur China, sondern auch Japan, Indonesien und Taiwan erheben Territorialansprüche auf Teile der Spratly- Inseln im Südchinesischen Meer. Dabei geht es weniger um die oft winzigen Eilande denn um die Ausdehnung des jeweiligen Hoheitsgebietes auf ein Seegebiet mit vermutlich grossen Erdölbeständen. Ein weiterer Brennpunkt ist dieStrasse von Malakka, die vor allem für den rohstoffarmen Inselstaat Japan einen neuralgischen Punkt darstellt. Der rapide Anstieg der Piraterie in diesen Gewässern (von 31 Vorfällen im Jahr 1998 auf bisher 90 in diesem Jahr) birgt erheblichen Sprengstoff, da nach Ansicht des Hamburger Professors Pohl staatliche Stellen vor allem inIndonesien dieses Gewerbe schützen. Die Schwäche staatlicher Zentralgewalt in Indonesien, dieauf ethnische wie religiöse Spannungen zurückzuführen ist, wird so zu einem zwischenstaatlichen Risikofaktor.

Schliesslich bleibt die Region anfällig für eine zweite Asienkrise. Viele Länder der Region haben die Auflagen des Internationalen Währungsfonds für die Reform des Bank- und Finanzsektor nur zögerlich und unvollständig umgesetzt. Insbesondere Indonesien ist weiterhin anfällig für einenVerfall seiner Währung, der, wie im Falle Thailands, die Volkswirtschaften der Region wie Dominosteine zum Einstürzen bringen könnte. Die Fragilität des wirtschaftlichen Aufstiegs in der Region hängt auch mit der wirtschaftlichen Stagnation Japans zusammen. Solange dort dringend notwendige Strukturreformen zugunsten von massiven Konjunkturprogrammen verschoben werden, dürfte der wirtschaftliche Motor der Region weiter stottern.

Strategien des Westens

Im Kontrast zu diesen Risiken diagnostizierten viele der Seminarbesucher einen Demokratisierungsprozess. Ein herausragendes Beispiel ist Taiwan, das spätestens nach den jüngsten Wahlenden Wandel zu einem demokratischen Gemeinwesen abgeschlossen hat. Trotz Taiwans enger wirtschaftlicher Verflechtung mit China werde es sich bitterlich gegen eine Einschränkung von Bürgerfreiheiten im Zuge einer Wiedervereinigung mit einem undemokratischen China wehren. Die Umsetzung des Slogans «Ein Land, zwei Systeme» in Hongkong hat auf Taiwan deutlich abschreckend gewirkt. Auch auf den Philippinen mehren sich die Anzeichen, dass demokratische Kontrolle durch eine Bürgergesellschaft und das Parlament immer besser funktionieren. Davon zeugt nicht zuletzt das jüngst eingeleitete Impeachment-Verfahren gegen Präsident Estrada wegen Korruption.

Wie kann der Westen zur Stabilität und Demokratisierung in der Region beitragen? Auf wirtschaftlichem Gebiet könnten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch aktiver werden, um eine zweite Asienkrise zu verhindern. In ihrer Fixierung auf Investitionen in China versäumen die EU-Staaten es jedoch, den Menschenrechtsdialog voranzutreiben. Auf dem «Hard security»-Gebiet kann Europa wegen seiner Kolonialvergangenheit sowie mangelnder Einigkeit und fehlender Mittel nur wenig ausrichten. Allerdingskönnten die europäischen Erfahrungen mit Krisenmanagement helfen, eine Verselbständigung und Eskalation kleinerer Scharmützel auf See zu vermeiden. Ein ungleich wichtigerer Stabilitätsfaktor ist nach Einschätzung der Experten die Präsenz von 70 000 Soldaten der Vereinigten Staaten in der Region sowie ihr politischer Einfluss auf China und Japan. Aber kann Amerika der chinesischen Expansion Grenzen aufzeigen, ohne Einschnürungsängste hervorzurufen? Wie kann Japan eine grössere Unabhängigkeit von Amerika erlangen, ohne dass bei dessen Nachbarn alte Ressentiments wiederaufleben? Schliesslich hängt die Stabilität der Region langfristig davon ab, ob es gelingt, innerasiatische Netzwerke und Institutionen (wie etwa Asean) derart zu stärken, dass diese zu einer friedlichen Lösung politischer Konflikte beitragen können.

[1] Aaron L. Friedberg: Will Europe's Past Be Asia's Future? In: Survival, 2000, Band 42, Nr. 3.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 23. November 2000

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