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Sozialcharta für ein Fünftel der Menschheit

Südasiengipfel fasste bedeutende Beschlüsse - Alternativer südasiatischer "Volksgipfel" tagte parallel

Vom 4. bis 6. Januar tagte in Islambad der Südasiengipfel. Die Medien hier zu Lande konzentrierten sich ganz auf die Begegnung der Regierungschefs der beiden verfeindeten Staaten Indien und Pakistan: Vajpayee und Musharraf. Von ihr erwartet man positive Signale für den Frieden in Südasien und neue Initiativen zur Lösung des Kaschmir-Problems.
Die eigentlichen Beratungen des Gipfels der sieben SAARC-Staaten Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka gerieten dadurch etwas in den Hintergrund. Mit der Dokumentation von zwei Artikeln - aus der Feder des Südasien-Korrespondenten Hilmar König - wollen wir über die politischen Inhalte des SAARC-Gipfels und eines gleichzeitig abgehaltenen alternativen Kongresses informieren.


Sozialcharta für ein Fünftel der Menschheit

Südasiengipfel fasste bedeutende Beschlüsse/Problemkatalog für Weltsozialforum in Mumbai

Von Hilmar König, Delhi

Mit der Unterzeichnung der Islamabad-Deklaration, einer Sozialcharta, eines Freihandelsabkommens (SAFTA) und eines Zusatzprotokolls zur Terrorismusbekämpfung ging am Dienstag in der pakistanischen Hauptstadt der 12. Südasien-Gipfel zu Ende.
Auch wenn die Beratungen der sieben Staats-und Regierungschefs im Schatten der Begegnungen zwischen dem indischen Premier Atal Bihari Vajpayee mit den Gastgebern Präsident General Pervez Musharraf und Premier Mir Zafarullah Khan Jamali verliefen, werden die Ergebnisse des Gipfels doch einhellig als "bedeutend", ja sogar als "historisch" bewertet. Premier Jamali sprach in seinen Schlussbemerkungen von einem "großen Erfolg für Frieden und gute Nachbarschaft". Entspannung, Fortschritt und intensive Kooperation zum Wohle der Völker Südasiens sind auch die Eckpunkte der gemeinsamen Islamabad-Deklaration. Die Atomstaaten Indien und Pakistan bekräftigten in Islamabad ihren Willen, den Entspannungsprozess fortzusetzen, was mehr als ein "Nebeneffekt" des Gipfels ist. Es gilt als zentrale Voraussetzung für ein prosperierendes Südasien. .

Seit rund einem Jahrzehnt hat man sich um ein südasiatisches Freihandelsabkommen (SAFTA) bemüht. Nun gelang der Durchbruch. Das Abkommen wie auch eine Vereinbarung zur Gewährung gegenseitiger Meistbegünstigung im Handel treten zwar erst am 1. Januar 2006 in Kraft. Doch an ihrer Bedeutung besteht kein Zweifel. Es wird erwartet, dass sich der regionale Handel, dessen Volumen etwa sechs Milliarden Dollar jährlich beträgt - das sind lediglich knapp fünf Prozent des Gesamthandels der SAARC-Länder - schnell verdoppeln wird. Das Wertvolumen des offiziellen Handels zwischen Indien und Pakistan wurde für 2002/03 auf magere 262 Millionen Dollar geschätzt, das des illegalen hingegen auf rund zwei Milliarden Dollar. Mit SAFTA werden solche "Irregularien" verschwinden. Ex- und Importe werden dann nicht mehr über Drittländer abgewickelt, sondern direkt. Zeit und Frachtkosten werden gespart. In der Perspektive stehen eine Zollunion, später eine Wirtschafts- und Währungsunion an. .

Von mindestens gleichem Gewicht ist die Sozialcharta, die darauf zielt, die Lebensqualität eines Fünftels der Menschheit spürbar zu verbessern, ökonomisches Wachstum, gesellschaftlichen Fortschritt und Kulturaustausch zu beschleunigen. Wie es in dem Dokument ambitiös heißt, soll allen Menschen die Chance gegeben werden, in Würde zu leben und ihre Fähigkeiten voll in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Die Charta zählt Minderung der Armut, Verbesserung der Gesundheitsdienste, des Bildungswesens, der Entwicklung menschlicher Ressourcen, Mobilisierung der Jugend, Förderung des Status der Frau sowie der Rechte und Wohlfahrt des Kindes, Familienplanung und Programme gegen Drogenmissbrauch zu den Aufgaben. Um diese Ziele zu erreichen, verpflichten sich die SAARC-Staaten, entsprechende legislative, exekutive und administrative Rahmenbedingungen zu schaffen. .

Die Erfahrungen zeigen allerdings, dass es dafür eines permanenten Drucks gesellschaftlicher Organisationen bedarf. Deshalb war es auch wichtig, dass parallel zum offiziellen SAARC-Treffen in Islamabad Nichtregierungsorganisationen aus den sieben südasiatischen Ländern Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka einen alternativen "SAARC-Volksgipfel" veranstalteten. Obwohl ihr Bemühen um einen direkten Draht zu den Staats- und Regierungschefs fehlschlug und sie von den Medien nahezu unbeachtet blieben, sind es gerade diese Organisationen, die auf die bestmögliche Verwirklichung der Sozialcharta pochen werden. .

Wie enorm die sozialen Probleme in Südasien sind, erläuterte dieser Tage Dr. Wasim Zaman, Regionaldirektor des UNO-Bevölkerungsfonds (UNFPA), in Katmandu. Er erinnerte daran, dass SAARC die richtigen Prioritäten setzen müsse und beispielsweise "Globalisierung nicht auf Kosten von Beschäftigungsmöglichkeiten erfolgen darf". Nach Dr. Zamans Angaben leben 40 Prozent aller Armen der Welt in Südasien - etwa 522 Millionen Menschen, die von weniger als einem Euro pro Tag existieren müssen. 40 Prozent der globalen Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren entfallen allein auf Indien, Pakistan, Nepal und Bangladesch. 70 Prozent aller unterernährten Neugeborenen und 30 Prozent aller im Kindbett sterbenden Mütter registriert man in dieser Region. Das Bildungsniveau von Frauen gehört hier zu den niedrigsten in der Welt. Das alles sind Probleme, die beim am 16. Januar in Mumbai beginnenden Weltsozialforum von Indien und den anderen SAARC-Mitgliedern in den Blickpunkt gerückt werden.

Das in Islamabad unterzeichnete Zusatzprotokoll zur Bekämpfung des Terrorismus bezeichnete Pakistans Premier Jamali als Meilenstein auf dem Weg, dieses Übel in der Region auszurotten. Jedes der SAARC- Länder leidet in der einen oder anderen Form unter militantem Extremismus. Auch wenn die Auffassungen darüber, wie Terrorismus zu definieren ist, stark auseinander gehen, einigte man sich auf eine gemeinsame Plattform. Das nächste Treffen der Staatenassoziation soll im Januar 2005 in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, stattfinden.

Aus: Neues Deutschland, 7. Januar 2004

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Debatten im Medienschatten

Alternativer südasiatischer »Volksgipfel« verwies auf dramatische soziale Situation in der Region

Hilmar König, Neu Delhi


Das Hauptereignis des 12. Gipfels der Mitgliedstaaten der Südasiatischen Assoziation für Regionalkooperation (SAARC) in Islamabad war am Montag das Treffen zwischen Indiens Premier Atal Bihari Vajpayee und Pakistans Präsident General Pervez Musharraf. Es handelte sich um die erste direkte Begegnung seit mehr als zwei Jahren. Im Juli 2001 weilte Musharraf zum Staatsbesuch in Indien und hatte mit Vajpayee ergebnislos in Agra verhandelt. Danach kam es im Januar 2002 beim 11. SAARC-Gipfel in Kathmandu zu nicht mehr als einem »kalten« Händedruck zwischen beiden. Nun verlief das Wiedersehen in Islamabad in »herzlicher Atmosphäre« und endete mit »positiven Eindrücken«. So jedenfalls die indische Einschätzung. Wie sehr beide Politiker ins Detail gingen und ob der Kaschmir-Konflikt erörtert wurde, teilte man der Öffentlichkeit nicht mit. Dennoch läßt die vorsichtige Andeutung, es könnte zwischen beiden bald zu einem weiteren Gespräch kommen, viel Raum für Spekulationen.

Von den Medien völlig vernachlässigt und sozusagen im Schatten des Treffens der Staats-und Regierungschefs findet zeitgleich ein »SAARC-Volksgipfel« in Islamabad statt. Dessen Veranstalter sind Nichtregierungsorganisationen aus den sieben SAARC-Ländern Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka. Ziel dieser Veranstaltung ist, die brennenden sozialen Probleme des Subkontinents in den Blickpunkt zu rücken, darunter Armut, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Kinderprostitution, Mädchenhandel über Ländergrenzen hinweg, Drogen- und Waffenhandel. Dr. Wasim Zaman, Regionaldirektor Südasien des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA), äußerte vor Journalisten Zweifel daran, daß die in Islamabad versammelten Staats-und Regierungschefs die Prioritäten für Investitionen richtig gesetzt haben. Er forderte zudem: »Globalisierung darf nicht auf Kosten der menschlichen Entwicklung gehen. Globalisierung ohne Beschäftigung ist sinnlose Globalisierung.« Angesichts der großen sozialen Probleme kritisierte er, daß die Militärausgaben in der Region von 1991 bis 2000 um 60 Prozent gestiegen sind.

Die Statistik zeigt, daß in Südasien ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt. Hier sind 44 Prozent aller Armen der Welt konzentriert. Etwa 522 Millionen Menschen müssen mit umgerechnet weniger als einem Euro pro Tag auskommen. 40 Prozent der globalen Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren entfallen auf Indien, Pakistan, Nepal und Bangladesch. Mit 70 Prozent hält die Region den traurigen Weltrekord von unterernährten Neugeborenen. Und 30 Prozent aller im Kindbett sterbenden Mütter registriert man in Südasien. Hier werden auch Mädchen und Frauen am stärksten vernachlässigt, diskriminiert und Gewalt ausgesetzt. Auch das Bildungswesen bietet mit Ausnahme von Sri Lanka ein erschütterndes Bild. Allein ein Drittel aller Inder erhält keine Grundschulbildung. Die gegenwärtigen Ausgaben des Staates pro Kopf der Bevölkerung für Gesundheit liegen niedriger als vor 50 Jahren. Der »Volksgipfel« in Islamabad gibt auch einen Vorgeschmack auf das Weltsozialforum, das ab 16. Januar im indischen Mumbai stattfindet.

Aus: junge Welt, 6. Januar 2004


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