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Gegner oder demokratische Partner?

Der politische Islam in Zentralasien und Europa

Von Arne C. Seifert *

Das übergreifende Thema der diesjährigen Friedensvorlesungen sind die „Umbrüche in der arabischen Welt und die Politik des Westens – Wer ist der Nächste?“ Meine Ausführungen betreffen mit Zentralasien eher den islamischen „Rand“ der arabischen Welt. Mit Afghanistan zwischen beiden. Aber zwischen allen drei Regionen besteht Verbindendes, sowohl hinsichtlich des Islamischen und seiner politischen Artikulierung, als auch einiger Konsequenzen für europäische und deutsche Außenpolitik.

Um das zu verdeutlichen, lassen Sie mich daher in die Thematik meiner Vorlesung über Afghanistan sozusagen „einsteigen“.

Meine Damen und Herren, der Schatten Afghanistans fällt auch auf Zentralasien. Sicherheits- und außenpolitische Kreise der zentralasiatischen Nachbarstaaten Afghanistans beunruhigt die Frage, welche sicherheitspolitischen Auswirkungen eine schrittweise Übergabe der politischen und militärischen Verantwortung an die afghanischen Behörden ab 2011und danach zeitigen wird. Sie besorgt vor allem, welche Auswirkungen sich daraus für das Kräfteverhältnis zwischen Taliban und den tadschikischen, usbekischen und anderen nationalen Herrschaftsträgern im Norden Afghanistans ergeben könnten und wer von ihnen die Oberhand gewinnt.

Es ist unvergessen, dass die Taliban im Norden Afghanistans 1996/97 bis 2001 schon einmal vorherrschten. Die Konsequenzen wirkten bis in die Nachbarstaaten hinein. So beeinflussten sie die Regelung des tadschikischen Bürgerkriegs (1992-97) und verschafften extremistischen islamistischen Kräften, wie der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU), militärisches Hinterland. Diese fielen von dort aus 1999 und 2000 in Usbekistan ein und provozierten blutige Gefechte mit der Regierung Karimov. Die Taliban gewähren diesen Kräften bis heute Unterschlupf und tolerieren deren Vorstöße in benachbarte zentralasiatische Staaten. Aus diesen Erfahrungen speisen sich die Sorgen der nördlichen Nachbarn: Wie wird sich die Situation an ihren Grenzen entwickeln? Werden sich die Vorstöße und Provokationen verstärken? Wird der Schmuggel mit Narkotika aus Afghanistan noch weiter zunehmen?

Die überragende Sorge ist jedoch eine innenpolitische. Nämlich, ob eine erneute Vorherrschaft der Taliban im Norden Afghanistans zur Mobilisierung des extremistisch-islamistischen Untergrunds in Zentralasien führen könnte und welche Konsequenzen sich daraus ergäben.

Meine Damen und Herren, dass ein solcher Untergrund existiert ist hinlänglich bekannt. Auch, dass er auf eine Veränderung der Machtverhältnisse zumindest in Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan aus ist. Mit Angriffen auf die säkulare Staatsmacht und den säkularen Staatscharakter wäre zu rechnen. Beides wird von den Untergrundextremisten, aber auch von ihm nicht angehörenden islamischen Politikern als anti-islamisch wahrgenommen. Solche Angriffe würden mit großer Wahrscheinlichkeit zu ernsten bewaffneten Auseinandersetzungen führen. Doch selbst wenn es durch kluge Prävention und/oder ein weitgehendes Heraushalten der Taliban aus dem Norden Afghanistans gelänge, der Gewaltanwendung auszuweichen, bleiben die Grundfragen bestehen und ungelöst:

Das ist erstens die Existenz eines solchen Untergrunds. Wie stark er ist, weiß niemand genau. In Rechnung ist jedoch zu stellen, dass er angesichts des hohen sozio-ökonomischen und politischen Spannungsstaus in diesen Ländern auf ein beträchtliches Mobilisierungspotential in der muslimischen Bevölkerungsmehrheit zurückgreifen könnte. Folglich haben wir es mit oder ohne Taliban mit einem bereits existierenden, beträchtlichen Konfliktpotential zu tun, welches unter den gegebenen Umständen unter religiösem Vorzeichen instrumentalisierbar ist.

Das ist zweitens das Fehlen eines alternativen islamischen Gegengewichts zu extremistischen Orientierungen in der muslimischen Sphäre Zentralasiens. Ein solches Gegengewicht müsste von reformerischen, auf das Konsolidieren ihrer jungen Staaten gerichteten Kräften gebildet werden. Solche Kräfte gibt es. Wir sind ihnen in unseren Symposien in Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan begegnet. Sie gehören zumeist jüngeren Generationen an, sind gut gebildet und zeichnen sich durch eine Symbiose des Bekenntnisses zu Islam, islamischen Werten und nationalen Interessen aus. Dass sie politisch nicht als Gegengewicht in die Waage fallen hat mehrere Gründe, auf welche einzugehen sein wird, liegt jedoch in erster Linie daran, dass ihnen die säkularen Herrschaftsträger den Weg zur Profilierung als legale politische Akteure versperren. Allein in Tadschikistan vermochte es die „Partei der islamischen Wiedergeburt“ (PIWT), sich durch die Vereinbarungen zur Beendigung des Bürgerkriegs einen legalen Status zu erkämpfen und ist im Parlament als Oppositionspartei vertreten. Sie sieht sich jedoch weiterhin mit erheblichen Widerständen seitens der Staatsmacht konfrontiert. Die Augen sollten also nicht davor verschlossen werden, dass jener extremistische Untergrund ohne das Entstehen alternativer islamischer Bewegungen nicht aus der Welt zu schaffen ist. Das bedeutet aber für die zentralasiatischen säkularen Machtträger, sich auf den politischen Islam in Zentralasien einzulassen. Dabei kann es nicht um ein taktisches Ausspielen eines so genannten gemäßigten gegen einen radikalen Islam gehen. Vielmehr sollten sich alle Seiten, die säkulare Staatsmacht und die Muslime, deren religiöse Würdenträger und politischen Vertreter zu einer grundsätzlichen Neubestimmung ihres gegenseitigen Verhältnisses entschließen.

Drittens, meine Damen und Herren, wird die erstmals auf dem OSZE-Gipfeltreffen von Astana im Dezember 2010 deklarierte „Eurasische Sicherheitsgemeinschaft“ nicht zu verwirklichen sein, solange es nicht gelingt, das Verhältnis zum „islamischen Faktor“ politisch zumindest auf einen koexistenziellen Modus Vivendi anzuheben. Das gilt vor allem für den kritischen Raum Kaukasus – Kaspisches Becken – Zentralasien. Hier verlaufen die Naht und bald auch neue Transportverbindungen zwischen Zentralasien und China im Osten sowie dem tief islamischen Süd-West-Asien im Süden. Diese Nord-Süd-, Süd-Nord-Öffnung, die eines Tages bis ans Arabische Meer reichen könnte, wird wie ein Windkanal den islamischen Orient in den asiatischen OSZE-Raum hineintragen. Kurzfristiger jedoch ist und bleibt völlig offen, ob und wann es in Afghanistan und Pakistan zu Frieden und Stabilität kommt. Wenn die USA und einige ihrer Verbündeten sich dort permanent festzusetzen beabsichtigen, wie in sicherheits- und außenpolitischen Kreisen der USA zurzeit erwogen wird , ist Widerstand, auch unter islamischem Vorzeichen, programmiert und sich diesseits und jenseits von Grenzen negativ auf die Stabilität auswirken.

Diese lang- und kurzfristigen Herausforderungen sprechen dafür, dass Europa und die OSZE die zentralasiatischen Sorgen ernst nehmen sollten. Die ursächliche Gefahr für Destabilisierung liegt weniger im Äußeren (Taliban), sondern in den nicht gelösten inneren Problemen. Da aber die Existenz eines möglichen externen „Zünders“ nun einmal Realität werden könnte, ergibt sich daraus die Chance, all jene inneren und äußeren Kräfte zusammenzuführen, die am Bewahren der Stabilität interessiert sind. Das wiederum kann eine übergreifende Interessenlage von säkularen und islamischen Kräften, europäischer Politik und der OSZE als Ganzes sein.

Wir reden folglich, meine Damen und Herren, nicht über eine abstrakte Angelegenheit, wenn wir über Verhältnis zum politischen Islam in ZA sprechen.

Im Weiteren beabsichtige auf folgende Fragen einzugehen:
  1. Was Europa das säkular-islamische Verhältnis in Zentralasien angeht?
  2. Zu den gesellschaftlichen und praktisch-politischen Konsequenzen, mit denen uns die erste Frage konfrontiert.
  3. Zu praktischen Erfahrungen aus dem Umgang mit politischem Islam und dem säkular-islamischen Verhältnis.
  4. Zu längerfristigen Entwicklungstendenzen im säkular-islamischen Verhältnis in Zentralasien.
Meine Damen und Herren, was geht Europa das säkular-islamische Verhältnis in Zentralasien an?

Europa hat gute Gründe, sich zu einem konstruktiven Umgang mit dem politischen Islam und islamischer Opposition im euro-asiatischen Raum zu entschließen. Mit der Erweiterung der OSZE bis an die chinesische Grenze und Afgha-nistan hat Europa nunmehr seinen eigenen euro-asiatischen Orient und seinen eigenen „euro-asiatischen Islam“.

Daran hat bei der Aufnahme der jungen ZA-Staaten in die 1992 OSZE im Westen niemand gedacht. Damals ging es ihm um die strategischen militärischen Systeme, die in dieser Region standen. Jedoch im zivilisatorischen Verständnis galt Zentralasien für ihn als „säkularer Appendix“ der säkularen Sowjetunion. Dass aber der „islamische Faktor“ und politische Islam Europa quasi durch seine asiatische „Hintertür“ im eigenen politischen Raum einholen könnten – damit hat niemand gerechnet.

Doch seit fast zwanzig Jahren sind sie Realität: Der islamische Faktor ist ein wichtiger Be-standteile der zivilisatorischen und politischen Realitäten in der OSZE und dem euro-asiatischen Raum.

Worin besteht nun das Problem?

Noch ist nicht unabwendbar, dass sich die schon fast traditionelle Negativfixierung Westen versus Islam, Islam versus Westen und Islam versus Säkularismus, Säkularismus versus Islam, nun auch im gemeinsamen politischen Raum der OSZE nachgerade „schicksalshaft" wiederholen müsste und der „westlich-muslemische Dialog" auch hier keine andere Perspektive hätte, als in jenen fatalen Zustand von intellektueller Erschöpfung und Sackgasse zu geraten, der ihn für den „Rest der Welt" auszeichnet. Kann sich Europa in dem strategisch wichtigen Dreieck zwischen Kaukasus, Kaspischem Meer und Zentralasien einen solch fatalen Zustand leisten?

Die Antworten sind eindeutig „nein!“; eine positive Alternative ist möglich. Um Letztere zu erschließen, wären allerdings in der OSZE und auch deutscher Außenpolitik gegenüber diesen Regionen die zu beantwortenden Fragen neu zu stellten:
  • Kann und muss der islamische Faktor Element kooperativer Sicherheits- und Stabilitätstrategien der OSZE für ihre euro-asiatische Region sein?
  • Kann er nach innen und außen in eine konstruktive Rolle eingebunden werden?
  • Gibt es eine realistische Alternative zu der destruktiven Rolle, die er teilweise bereits gespielt hat?
  • Kann zivile islamische Opposition "normale Opposition" im demokratischen Verständnis sein und was wäre dafür erforderlich?
  • Können muslimische Bevölkerung, islamische Aktivisten und westliche Politiker einen gemeinsamen politischen Grundkonsens erreichen, der auf dem Gedanken der Koexistenz, kluger Adaption der Prinzipien sowie den Normen und Werten der OSZE beruht?
  • Und wenn ja, nach welchen Gesichtspunkten wäre ein solcher Konsens zu gestalten?
Sieben Gründe sprechen für die Suche nach positiven Antworten:
  1. Bevölkerungspotenzial. Mit dem islamischen Faktor sind 40 Völker in der euro-asiatischen Region der OSZE verbunden, denen rund 57 Millionen Menschen angehören. Für Russland gehen Schätzungen davon aus, dass dort in etwa 30 Jahren 30 bis 40 Millionen Moslems leben werden.
  2. Religion. Nach soziologischen Erhebungen aus 2000, ist in Zentralasien, dem Kaspischen Becken und im Kaukasus der Islam die bestimmende Religion. Zum Grundsatz "es gibt keinen Gott außer Gott, Allah" bekennen sich in Kasachstan 63, in Usbekistan 82 und in Tadschikistan 79 Prozent der Bevölkerung. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Angaben inzwischen veraltet sind und die Anhängerschaft des Islams seitdem beträchtlich gewachsen ist. So zeugen für Tadschikistan soziologische Untersuchungen von 2009 davon, dass inzwischen 94,8% der Bevölkerung sich als Muslime verstehen. In der Bevölkerung kommt der Islam vor allem als moralisches Wertesystem zur Geltung, als Überzeugung und als Anschauung, die den Sinn des Individuums bestimmen. 96% der Befragten lassen sich bei ihren Entscheidungen mehr oder weniger von religiösen Erwägungen leiten, 73% besuchen eine Moschee regelmäßig, 50% beten täglich fünf Mal und 76,2% fasten während des Ramadan.
  3. Geostrategische Interessenlagen. In geostrategischer Hinsicht löst sich die Region allmählich aus dem hergebrachten Verständnis des einstigen russisch-sowjetischen (säkularen) "Orients". Die Region entwickelt sich vielmehr zu einer Art "euro-asiatischen Orient", der perspektivisch mit der islamischen Welt, China und der Region des Persischen Golfs möglicherweise enger verbunden sein könnte als mit dem Westen. Die sich daraus ergebenden geostrategischen, wirtschaftlichen, politischen, infrastrukturellen und kulturellen Spielräume werden von beiden Seiten zunehmend wahrgenommen. Vor dem Hintergrund nicht abgeschlossener Transformations- und Staatsformungsprozesse können sich die Interessenlagen alter und neuer Eliten und damit geo-strategische Konstellationen weiter verändern. Dafür zeugen die Mitgliedschaft einer Reihe von Staaten der Region in der „Shanghai Co-operation Organisation“ (SCO), der Vorsitz Kasachstans 2010 der OSZE sowie 2011 der SCO und gleichzeitig der „Islamic Conference Organisation“.
  4. Transformation und Staatsformung. Unter den gegebenen spezifischen sozialen und religiösen Voraussetzungen werden Transformations- sowie Staats- und Nationsbildungsprozesse durch den islamischen Faktor beeinflusst. Dieser stellt damit keine Option dar, die zu berücksichtigen oder nicht zu berücksichtigen der Politik freigestellt ist. Der islamische Faktor hat in der Region auf jeden Fall eine Perspektive, die Frage ist nur, welche Qualität und Form diese annehmen wird.
  5. Politisierung von Islam. Systemtransformation und Staatsformung führen unter den gegebenen sozialen Rahmenbedingungen und bei einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit unvermeidlich auch zu einer Politisierung des Islams. Die Frage lautet daher nicht, ob sich eine Politisierung von Islam vermeiden lässt, sondern ob diese Politisierung in konstruktiver oder destruktiver Weise erfolgt und wie und durch wen sie instrumentalisiert werden kann.
  6. Das Verhältnis zwischen Säkularismus und Islam ist Teil der Transformations- und Staatsformungsprozesse und damit der Gestaltung der politischen Systeme. Die Auseinandersetzung zwischen Politik und Religion verläuft vorwiegend zwischen säkularen Regierenden und den Trägern des politischen Islam. Beide konkurrieren miteinander hinsichtlich des gesellschaftspolitischen Entwicklungswegs ihrer noch unfertigen Nationalstaaten. Dieser Wettbewerb kann zum Ausgangspunkt sowohl für Demokratisierung als auch für Konflikte werden.
  7. Notwendigkeit eines Konzeptes. Obgleich die OSZE in Konflikten und Schlichtungsprozessen in ihrer euro-asiatischen Region bereits mit der militanten Variante des politischen Islamismus konfrontiert wurde, so, wie bereits erwähnt, im tadschikischen Bürgerkrieg und in den bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Islamischen Bewegung Usbekistans, stellt sich die OSZE dem islamischen Faktor nur zögerlich. Mit ihrem Ansatz der Terrorismusbekämpfung greift sie zu kurz und mit ihrer jetzigen "Partnerarbeit" sitzt sie zwischen den Stühlen: Während das Verhältnis der OSZE zu den säkularen Regimes ambivalent bis brüchig ist, fehlt ihr eine Strategie für den Umgang mit politischem Islam und Islamisten. Erstmalig bietet die Herausbildung einer national orientierten, reformerischen politischen islamischen Strömung in Tadschikistan Anregungen zu neuen Wegen. Anfänge dafür zeigen sich auch in Kirgisizstan. Doch dazu später.
Zu II.: den gesellschaftlichen und praktisch politischen Konsequenzen:

Meine Damen und Herren, aus der beschriebenen Gesamtkonstellation ergeben sich einige sehr komplizierte gesellschaftliche und praktisch politische Konsequenzen:

Erstens, „Steine zivilisatorischen Anstoßes“, welche im Nahen Osten zu den Gründen des Phänomens eines islamischen Fundamentalismus zählen, finden sich auch in Zentralasien: In den noch unfertigen Staaten sind nationale Identitätsfindung und Islam nicht voneinander trennbar. Dort sind die religiösen Fundamente des Islams und der muslimischen Bevölkerung im Verlaufe eines dreiviertel Jahrhunderts von der sowjetischen Kulturrevolution gründlich, sozusagen, „umgeräumt“ worden: Nämlich - allen islamischen Völker der Sowjetunion wurden ungefragt ein säkulares Staatssystem übergestülpt, welches die heutigen Regierungen fortsetzen. Mit Ausnahme Tadschikistans werden islamische Aktivisten überall verfolgt. Zusammen mit Verarmung, Krise der Bildungssysteme und Retraditionalisierung der Gesellschaften bereitet dieses repressive Verhalten radikal-islamischen Gruppierungen mit Herkunft im arabischen Raum, wie Hizb at-tahrīr, den Boden.

Zweitens, die Transformations- und Staatsformungsprozesse bleiben kompliziert. Das macht gesellschaftspolitische Spannungen unvermeidlich. Schon heute ist offensichtlich, dass die herrschenden säkularen Eliten nicht oder nur begrenzt jenes Maß an Demokratisierungsfähigkeit und politischer Flexibilität aufbringen, das erforderlich ist, um auf innerstaatliche und regionale Konfliktsituationen ausreichend stabilitätswirksam zu reagieren. Die angespannte sozial-ökonomische Situation und Verarmung großer Teile der Bevölkerung bewirken in allen zentralasiatischen Staaten Unzufriedenheit. Nach Angaben der Asian Development Bank (ADB) lebten 2007 in Tadschikistan 53,5% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, 2006 in Kirgisistan 39,9%, 2005 in Usbekistan 25,8% und sogar im reichen Kasachstan 2004 - 16,1%.

Beides – mangelnde Demokratiefähigkeit und soziale Perspektivlosigkeit - werden einerseits zu einem Mehr an diktatorischen Herrschaftsformen und andererseits zu einer erstarkenden Opposition führen, die sich vor allem islamisch artikuliert.

Drittens, ein unterschiedliches Verständnis von nationaler kultureller Identität, welches säkulare und islamische Politiker der Staatsformung und ihrer ordnungspolitischen Ausrichtung zu Grunde legen, ist ein real politikbestimmender Dissens. So brachte Hodscha Akhbar Turodschonzoda, einer der prominentesten islamischen Politiker in Zentralasien und einer der ehemaligen Führer der islamischen Seite in der „Vereinigten Tadschikischen Opposition“ (VTO) im tadschikischen Bürgerkrieg, der nach der Friedensvereinbarung von 1997 erster stellvertretender Ministerpräsident Tadschikistans wurde, mir gegenüber zum Ausdruck, er sei voll tiefer Bewunderung für die Demokratie, in der Westeuropa und auch Russland ruhten. Sie und die sie tragenden Völker bezögen ihre Stärke aus ihren jeweiligen historisch gewachsenen Formen des „Christentums als einer Selbstverständlichkeit der Menschen und ihrer Kultur". Diese Äußerung hat folgenden rationalen Kern: Staats- und Nationsbildung sind aus dieser Sicht so zu betreiben, dass sie mit der soziokulturellen Identität übereinstimmen, dass das „Muslim-Sein" einer Bevölkerungsmehrheit und ihrer Religionsfreiheit als Selbstverständlichkeiten in und für Gesellschaft und Staat gelten, und dass sich beides in der politischen Kultur der Führung des Landes widerspiegelt.

Nachdem die religiöse Identität über Jahrzehnte durch das aufgezwungene fremde russisch-sowjetische Gesellschaftsmodell bis an ihre Existenzgrenze belastet war, ist dies ein nachvollziehbarer Wunsch.

Diese Sensibilität gegenüber religiöser und kultureller Identität wird jedoch von den herr-schenden säkularen Eliten stets von neuem provoziert: Als diese nach der Unabhängigkeit der mittelasiatischen Staaten die Macht übernahmen, verankerten sie in „ihren" Staaten den Säkularismus in den Verfassungen. Schritt für Schritt wichen sie sogar von den Liberalisierungstendenzen im Verhältnis des Staates zur Religion wieder ab, die während der Perestroika entstanden waren und die Muslim-Aktivisten auf eine „bessere Zukunft" hatten hoffen lassen - so z.B. in Usbekistan, wo diese 1991 erwartet hatten, dass ihr Land in der neuen Verfassung zum islamischen Staat erklärt würde. Nicht nur dort sah man sich stattdessen mit einer Politik konfrontiert, die eher derjenigen der einstigen „roten Kolonisatoren" gegenüber dem Islam ähnelte und auf seine Eindämmung, Kontrolle, Marginalisierung oder Majorisierung hinauslief. Überall war das Bestreben deutlich, den Einfluss des Islam auf die Gesellschaftspolitik zurückzudrängen, der insbesondere in den ersten Jahren einer erwachenden nationalen und religiösen Neubeginns zugenommen hatte.

Meine Damen und Herren, Enttäuschung kombiniert mit der Entschlossenheit, jene „Stunde null" zu Beginn der Eigenstaatlichkeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, brachen z. B. in Usbekistan islamistische „Gruppen hervor, die sich durch äußerste Unduldsamkeit und Extremismus gegenüber der bestehenden Ordnung auszeichneten". Im Verhalten der „neuen-alten" Eliten zum Islam und seinen politischen Repräsentanten glaubten diese wieder jener Verbindung von Säkularismus und Kommunismus zu begegnen, die für sie der Hauptfeind war. Das veranlasste sie dazu, dem bisher vorwiegend um die Reinheit ihrer Religion geführten Streit um die Frage, ob Usbekistan ein „Haus des Islam" („Dar al-Islam") und damit des Friedens oder ein „Haus des Krieges" („Dar al-harb") sein solle, ein neues Verständnis zu geben: nämlich das vom „Widerstreit einer ungläubigen Minderheit (im Sinne der herrschenden säkularen Eliten - A.S.) gegen eine muslimische Mehrheit". In Tadschikistan griffen 1992 die Islamisten in Koalition mit national, aber säkular orientierten Demokraten nach der Macht. Noch nach dem Ende des Bürgerkriegs 1997 war die Streichung der Verfassungsbestimmung von Tadschikistan als säkularem Staat ein Kernpunkt der politischen Auseinandersetzungen in der „Kommission für nationale Aussöhnung“ zwischen dem Lager des Präsidenten Rachmon und der Partei der islamischen Wiedergeburt Tadschikistans.

Viertens haben Inhalt sowie die Art und Weise der Staatsformung bei einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit religiöse und wertegebundene Besonderheiten zu berücksichtigen. Geschieht dies, so wird der Einfluss des Islams und mit ihm verbundener Eliten steigen. Geschieht dies nicht oder nur ungenügend, wie es gegenwärtig sowohl in der Politik der säkularen Regimes als auch in den Demokratisierungsstrategien der OSZE der Fall ist, wird dies islamische Opposition provozieren.

Meine Damen und Herren, man kann die Dinge also wenden, wie man will, so oder so: eine Politisierung des Islams wird unvermeidlich sein.

Das eigentliche Problem besteht aber nicht in der Politisierung, sondern in seiner Radikalisierung!

Dabei geht es nicht um einen abstrakten Islam, sondern um konkrete Personen und Gruppierungen, Eliten und ihre Anhänger sowie deren Interessenswahrnehmung. Vorbeugung von Radikalisierung hängt vor allem davon ab, wie und von wem die Politisierung instrumentalisiert wird: konstruktiv oder destruktiv, von extremistischen islamischen Kräften oder von solchen, die, wie in Tadschikistan, mit einer säkularen Regierung koexistieren und sich für eine zivile islamische Opposition entschieden haben. Schließlich auch davon ob es gelingt, radikale Bewegungen, sofern sie einmal entstanden sind, in eine friedliche, reformerische Richtung zu transformieren.

Die Konsequenz daraus ist, dass unter den Bedingungen Zentralasiens Sicherheits- und Demokratiestrategien, die stabilisieren wollen, um eine gewaltfreie Koexistenz zwischen Säkularismus und Islam - nach innen im Staatsformungsprozess, und nach außen im Verhältnis zu Europa - nicht herum kommen.

Die politikrelevanten Fragen daraus lauten:
  • Wie lässt sich verhindern, dass unterschiedliche werte- und gesellschaftspolitische Orientierungen miteinander in Konflikt geraten?
  • Was muss getan werden, um zu verhindern, dass Religion dabei an diesen Unter-schiedlichkeiten destruktiv instrumentalisiert wird und in radikale islamische Bewegungen umschlägt?
Meine Damen und Herren, im Kontext der Frage nach den Verhinderungsmöglichkeiten eines gewaltorientierten Konflikts zwischen unterschiedlichen werte-, gesellschaftspolitischen und religiösen Orientierungen komme ich nicht umhin, auf die negativen Wirkungen der „Antiterrorstrategie“ auch in Zentralasien einzugehen.

Unter dem perspektivischen Gesichtspunkt von Stabilitätssicherung darf nicht übersehen werden, dass die in den letzten Jahren von den westlichen Staaten und zentralasiatischen Regierungen verfolgte Antiterrorstrategie in ihrer gesellschaftspolitisch stabilisierenden Reichweite außerordentlich „unproduktiv„ ist, um das Wenigste zu sagen. Ihre einseitig militär- und sicherheitspolitische Orientierung reduziert das Verhältnis Europas und der zentralasiatischen Staatsführungen zum politischen Islam auf eine zu bekämpfende gesellschaftliche Randgruppe (der „extremistische Rand“). Diese aber sind für die überwiegende Mehrheit der Muslime und sich am Islam orientierender Politiker nur wenig repräsentativ. Deshalb leidet unter einer solchen Strategie das, was politisch tatsächlich zu leisten ist: Nämlich zu einem konstruktiven Verhältnis zu den Trägern des politischen Islams als gesellschaftspolitisches Gesamtphänomen zu kommen.

Von der gegenwärtigen Antiterrorismusstrategie in Zentralasien bleibt die Frage unbeant-wortet, welche Turadschonsoda bereits im Jahre 2002 stellte: Dass nämlich in das Zentrum der Erörterung nicht die Frage gehört, wie Extremismus vernichtet, sondern wie dem Aufkommen extremistischer Ansichten vorgebeugt werden kann.

Und schließlich greift der militär- und sicherheitspolitische Kontext selbst in seiner Absicht der Auseinandersetzung mit dem „extremistischen Rand“ zu kurz, weil das Regeln von gewaltsamen Konflikten ohne die Einbeziehung und Befriedung auch extremistischer Kräfte überhaupt nicht möglich ist. Denn sie sind in der Regel diejenigen, welche zur Waffe greifen. Ohne ihre Einbindung in politische Regelungsprozesse ist die Pazifizierung militanter Kräfte nicht möglich.

Meine Damen und Herren, das ist eine zentrale Erfahrung auch für die Konfliktregelung in unmittelbarer afghanischer Nachbarschaft. Der Westen vernachlässigt sie in Afghanistan sträflichstens. Zwar verlauten in letzter Zeit Meldungen, wonach die USA nun endlich und viel zu spät bereit wären, mit den Taliban in Gespräche zu treten. Aber zugleich binden die USA ihre Bereitschaft dazu an unrealistische Vorbedingungen: Die Taliban müssten zunächst die afghanische Verfassung anerkennen und die Waffen niederlegen. Mit den gleichen Vorbedingungen reagierte die tadschikische Regierungsseite, als es darum ging, mit der Opposition in Verhandlungen zu treten, um mit Vermittlung der VN den Bürgerkrieg zu beenden. Die Gegenargumente der islamischen Opposition lauteten damals: Diese Verfassung wurde durchgesetzt, ohne uns zu fragen oder unsere Auffassungen zu erfragen. Wir sind jedoch bereit, sie in die Friedensgespräche nachträglich einzubeziehen. Zweitens, wir werden die Waffen solange nicht niederlegen, wie wir nicht sicher sind, dass ein unsere Interessen gebührend berücksichtigender Frieden ausgehandelt ist. Und wir wollen sicher sein, dass die Regierungsseite uns hernach nicht betrügt.

Die Regelung des tadschikischen Bürgerkriegs verdeutlichte Zweierlei: der Friedensprozess verlief, abhängig vom jeweiligen Kräfteverhältnis in bestimmten Fragen, von beiden Seiten als eine Kombination von Verhandeln und Schießen. Nachdem sich die Opposition schließlich, wie im Friedensabkommen vereinbart, ihrer Demilitarisierung unterzogen hatte, trat das ein, was damals islamische Gegner eines Kompromisses mit der säkularen Regierungsseite befürchtet und vorausgesagt hatten: Letztere werde die Anhänger der VTO, in erster Linie die islamischen, Schritt für Schritt in eine politische „Zwangsjacke“ pressen und als Opposition handlungsunfähig machen.

Meine Damen und Herren, genau das widerfuhr der islamischen Opposition in Tadschikistan, nachdem sie den Waffen abgeschworen, die Verfassung nach einigen nicht unwichtigen Veränderungen sowie den säkularen Staatscharakter anerkannt und sich auf den parlamentarischen Weg der politischen Konkurrenz begeben hatte. Mit anderen Worten: die „Jahre des Friedens“ erweisen sich in der Wahrnehmung jener damaligen islamischen Skeptiker als Aufgabe einer grundsätzlichen Friedensphilosophie, welche die Vermittler der VN und der OSZE dem Verhandlungsprozess zugrunde legten und zu der sich die beiden Bürgerkriegsseiten schlussendlich bekannten: Ihr Friedensschluss wird keine Verlierer, sondern nur Gewinner kennen. Sein größter Gewinner wird das tadschikische Volk sein.

Meine Damen und Herren, ich bin auf jene Erfahrungen vor allem auch deshalb ausführlicher eingegangen, weil sie im Gedächtnis der islamischen Politiker in Zentralasien präsent sind und bleiben. Auch bei jenen im Untergrund! Vor diesem Erfahrungshintergrund bleibt offen, ob sie mit der Verlässlichkeit säkularer politischer Kräfte rechnen können, ehe sie sich mit diesen auf eine gemeinsame Friedensphilosophie einlassen. Wir sollten nicht vergessen, dass dazu auch die OSZE gehörte, die es in einer vom „war on terror“ verengten Sichtweise nicht vermag, jene Friedensphilosophie am Leben zu erhalten. Auf diese Weise kann Gegnerschaft sich leicht zementieren.

Für nicht weniger lehrreich halte ich jedoch, meine Damen und Herren, dass das tadschiki-sche Beispiel einer Konfliktregelung Zeugnis davon ablegt, dass Frieden und Kompromisse gerade mit den radikalen Kräften gesucht und gefunden werden müssen. Kompromisse, Zusammenarbeit und gewaltfreie Koexistenz zwischen einer säkularen Regierung und islamischen Politikern und Parteien sind möglich. Auch ein alternativer, gewaltfreier den Umgang zwischen ihnen ist unter bestimmten Bedingungen gestaltbar.

Meine Damen und Herren, auf diese Bedingungen gehe ich im folgenden Teil ein:

Zu III: Praktische Erfahrungen

Angesichts dieser komplizierten Zusammenhänge geht das Zentrum für OSZE-Forschung (CORE) am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg, bereits seit 2000, also vor dem 11. September 2001 , in Tadschikistan, Kasachstan und Kirgisisstan den Fragen nach, worin die Gestaltungsbedingungen für einen gewaltfreien koexistenziellen Umgang säkularer Herrschaftsträger und politischer Vertreter des Islams und das Misstrauen zwischen ihnen und seine strukturellen Ursachen bestehen.

Dabei konzentrierte sich CORE anfangs besonders auf das tadschikische Forschungsfeld nach dem Bürgerkrieg (1992-97), weil hier die tiefsten Einsichten in die säkular-islamische Konfliktlogik und Dynamik vorliegt, die mehr oder weniger typisch für die gesamte Region sein dürfte.

Als wesentliche Streitfragen stellen sich heraus:
  1. Der Charakter des Staates - säkular oder „nicht-säkular" - und seine konstitutionelle Formulierung.
  2. Der Platz religiöser (islamischer) Vereinigungen und Parteien im politischen System und die gesetzliche Fixierung ihrer Rechte und Pflichten.
  3. Platz, Rolle und Perspektiven der islamischen Elite in den politischen Prozessen so-wie, in einem breiteren Kontext, im Prozess der Formung nationaler Staatlichkeit;
  4. Die weitere Konkretisierung des „Prinzips der Trennung von Religion und Staat“: Hierbei geht es um das Erarbeiten konkreter Maßnahmen für die Harmonisierung des Verhältnisses zwischen religiösen Einrichtungen und den Staatsorganen, welches die Bevormundung durch den säkularen Staatsapparat stark belastet ist. Den Kern bilden hier die Gewährleistung der Religionsfreiheit und die Unabhängigkeit der religiösen Einrichtungen von den Machtorganen.
  5. Vertrauensbildende Maßnahmen: Hierbei ging es um die Ausarbeitung von Maß-nahmen, die dem Bedürfnis beider Seiten nach Rückversicherung bezüglich der strategischen Absichten der jeweils anderen Seite entgegen kommen und auf deren Grundlage ein Prozess der Vertrauensbildung eingeleitet werden könnte.
Meine Damen und Herren, für letztere Frage der Vertrauensbildung ist der Ausgangs-punkt, dass zwischen „Islamisten“ und „Säkularisten“ ein tiefes „Dilemma des Misstrauens“ besteht. Im Kern dreht es sich dabei um Grundfragen, die vor dem Hintergrund der ungeklärten Frage nach der ordnungspolitischen Orientierung der noch jungen Staaten besonders brisant sind:

Erstens besteht tiefes Misstrauen hinsichtlich der strategischen Absichten der jeweils anderen Seite. Die säkulare Macht befürchtet, dass islamische Parteien schlussendlich nach einem theokratischen Staat streben, sollten sie an die Regierung kommen. Deshalb trachtet sie nach Garantien, welche dies verhindern.

Andrerseits halten die islamischen Vertreter der säkularen Seite vor, dass diese ihr Ver-ständnis von Säkularismus und säkularem Staatscharakter nicht ausreichend in einem koexistenziellen Sinne geklärt habe, welcher ihnen einen gleichberechtigten Platz in den Staatsformungsprozessen sichert.

Nicht weniger wichtig ist, dass jenes Dilemma des Misstrauens auch eine europäische Dimension hat: Erst die Wahrnehmung einer gesicherten religiösen und gesellschaftspolitischen Perspektive im eigenen Staat und im euro-asiatischen Staatenverbund wird die Anhänger des Islams auf nationale Positionen bringen bzw. dort halten und ihrem Abgleiten auf pan-islamistische vorbeugen können.

In unseren Diskussionen erwies sich die Frage nach dem zivilisatorischen Charakter des gemeinsamen Staates immer wieder als Dreh- und Angelpunkt. Für die islamischen Vertreter galt das Postulat der „Trennung von Religion und Staat“ als Ausdruck eines anti-islamischen Staatscharakters und war somit unannehmbar als Grundlage für das angestrebte Verhältnis von Koexistenz und Zusammenarbeit.

In unserer Arbeit in Tadschikistan eröffnete den Ausweg die Erkenntnis weitsichtiger säkularer Politiker, dass eine „absolute Trennung von Religion und Staat“ bei einer muslimischen Mehrheit „weder möglich, noch zweckmäßig“ sei. Unter den neuen Bedingungen eines gemeinsamen nationalen Staates komme es vielmehr darauf an, das Verhältnis zwischen Staat und Islam sowie vor allem ihren politischen Vertretern zu harmonisieren und dafür neue Grundlagen zu finden. Es empfehle sich dabei, unter den Bedingungen einer islamischen Bevölkerungsmehrheit mit Islam wie mit einer «ewigen Größe» umzugehen.

Ein solcher Erkenntnis- und Positionswandel auf säkularer Seite ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil er erstmals in Zentralasien das überkommene, aber bei den säkularen Eliten auch weiterhin dominierende sowjetische Säkularismusverständnis aufbricht. Ihm zufolge seien Religion und Staat voneinander zu separieren, nicht aber, so wie im originären europäischen Säkularismusverständnis, Staatsmacht und Kirche. Da es aber im Islam keine Kirche gibt, besteht die Aufgabe darin, eine neue Religionspolitik des säkularen Staates zu entwerfen, welches den neuen Bedingungen einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit angepasst ist. Dem aber verweigern sich die säkularen Herrschaftsträger bisher in allen zentralasiatischen Staaten.

Zu IV, den längerfristige Entwicklungstendenzen im säkular-islamischen Verhältnis in Zentralasien

Meine Damen und Herren, überall schreitet in Zentralasien die Islamisierung der Gesellschaften voran. Das drückt sich weniger in Zahlen aus, als in seiner Qualität, die jener Prozess bereits heute erreicht hat. Sie widerspiegelt sich in einer schleichenden Ausbreitung islamischer Dogmen, Normen, Werte und Regeln, in sich verstärkender, sich auf den Islam berufender politischer Aktivität und im alltäglichen sozialen Verhalten der Bevölkerung. Zunehmend ist sie bereit, den islamischen Verhaltensvorschriften zu folgen. So nehmen Geschäftsinhaber in Tadschikistan und Kirgisistan Umsatzverluste in Kauf und stellen den Verkauf alkoholischer Getränke ein. In einigen Gebieten der kirgisistanischen Hauptstadt achten jugendliche Gläubige auf die Einhaltung der Regeln islamischer Schlachtung. Es begegnen erste Restaurants, die keine alkoholischen Getränke mehr verkaufen mit der Begründung, dass sich das „nach den Regeln des Korans nicht gehöre.“ Hochzeiten nach islamischem Brauch, Tragen des islamischen Kopftuches und das Einhalten islamischer Feiertage nehmen überall zu.

Nach nahezu zwanzig Jahren der Ausformung dieser jungen Staaten und ihrer Identitätsfindung verwächst die Bevölkerung folglich immer tiefer mit ihren historisch gewachsenen religiösen Wurzeln. Die islamischen Werte werden in der Gesellschaft zunehmend zu sozial-normativen Determinanten.

Insgesamt kann das als ein organischer, objektiver Vorgang begriffen werden, der jedoch zugleich eine Erosion der in der sowjetischen Herrschaftsepoche von außen aufgetragenen säkularen Oberfläche bewirkt.

Vor diesem Hintergrund wurde auf einem gemeinsamen Workshop von CORE und dem kirgisischen Institut für Strategische Analyse und Prognose im November 2008 eingeschätzt, dass um „die Ressource Islam“ der Kampf entbrannt und deren Politisierung nicht mehr aufzuhalten ist.

Angesichts dessen, so der Workshop, bestehe die wichtigste Aufgabe darin, die Politisierung religiöser Kreise in friedliche Bahnen zu lenken. Das wiederum werde in entscheidendem Maße davon beeinflusst, welche Seite es besser verstehe, diese Ressource für sich zu nutzen: innere oder äußere, modernisierungs- und national orientierte Kräfte, oder externe radikal-fundamentalistische, wie Hizb at-tahrīr oder Salafīya, die strategisch auf die Rückführung Zentralasiens ins „Dar Al-Islam“ hinwirken.

Meine Damen und Herren, zwar kann davon ausgegangen werden, dass in Tadschikistan und Kirgistan die politische Macht der säkularen Herrschaftsträger durch radikal-islamistische Bewegungen nicht unmittelbar bedroht ist. Doch der Kampf um die Macht läuft und er läuft vor allem in einer ganz neuen Form: Als „Kampf um die Köpfe der Muslime, insbesondere der Jugend.

Junge Theologen und Imame, die in islamischen Religionsschulen in Pakistan, Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien, Türkei ausgebildet wurden, sind dabei, ihre Lehre gegen den säkularen Staat zu richten zugunsten eines Kalifats, für soziale Gerechtigkeit, gegen Unfähigkeit und Korruption der Regierenden.

Sie und konservative Imame vermitteln zunehmend in privaten Medresen, Moscheen und Zirkeln Kindern und Jugendlichen einen unmodernen, rückständigen, teils militanten Islam. Sie verfolgen das Ziel, ihren Islaminterpretationen vorrangig unter der Jugend Masseneinfluss zu verschaffen, um sich bei ihrer Profilierung zur politischen Gegenkraft zur jetzigen Macht auf sie zu stützen.

Das ist, meine Damen und Herren eine bedenklich konfliktträchtige Tendenz. Wenn sich ihr gegenüber die Seiten nicht konfliktpräventiv und Reform orientiert verhalten, kann sich so die Frage nach der weiteren ordnungspolitische Orientierung der jungen Staaten zur Kernfrage zu erwartender Auseinandersetzungen zwischen Staatsmacht und islamisch orientierten Gegenkräften entwickeln, nämlich um die Frage säkularer oder islamischer Staat.

Für den Ausgang jener Auseinandersetzung wird weniger Repression, sondern letztendlich jener Wettkampf um die „Köpfe der Jugend“ den perspektivischen Ausschlag geben.

Diese Aktivitäten zeigen schon heute Wirkung. Insbesondere in Jugendkreisen wird die Frage nach dem Staatscharakter, säkular oder islamisch, thematisiert. In Kirgisizstan manifestiert sich das in Fragen wie:
  • Kann sich die Religion der Mehrheit erst dann voll entfalten, wenn sie Staatsreligion wird?
  • Darf sich der Staat in die Angelegenheiten der muslimischen Gemeinde einmischen?
  • Welche Chancen hat die Koexistenz von säkularem Staat und Islam?
Neben der ausflussreichen Hizb at-tahrīr in Tadschikistan, vermochten es innerhalb von nur drei Jahren die im Januar 2009 verbotenen Salafis (eine Gegenbewegung zu westlicher Modernisierung aus dem arabischen Raum) mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, islamischer Askese, Lebensweise und Ethik, vor allem in der Jugend beträchtlichen Anklang zu finden. Auf politischem Gebiet agitieren sie gegen ein demokratisches politisches System, die Existenz islamischer Parteien, wie die PIWT, eingeschlossen. Theologisch bekämpfen sie die traditionelle zentralasiatische, hanafitische Rechtsschule sowie Sufismus und sufistische Orden, wie Qādirīya und Naqshbandīya, die in Tadschikistan wichtige traditionelle islamische Glaubensträger sind, womit sie den Widerstand der traditionellen Geistlichkeit provozierten, die auf das Verbot der Salafīya mit hinwirkten.

In diesem Kontext scheint es mir angebracht, meine Damen und Herren, einige Überlegungen zum Kräfteverhältnis anzustellen.

Trotz ihrer Abwehrbewegungen gegenüber politischen islamischen Kräften befindet sich die säkulare Staatsmacht in beiden Staaten in der Defensive:

Einerseits kann sie deren Einflusszuwachs mit repressiven Methoden, wie Verhaftung religiöser Aktivisten, Verbot religiöser Schriften, Organisationen und Bewegungen nicht eindämmen, sondern provoziert mehr Widerstand aus dem Untergrund heraus. Andererseits fehlen ihr die wirtschaftlichen Ressourcen, um die sozial-ökonomischen Ursachen für Radikalisierung insbesondere der Jugend in den nächsten Jahren aus der Welt zu schaffen.

Daraus ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Da sich die Ressource Repression als uneffektiv erweist, eine schnelle Verbesserung der sozio-ökonomische Lage als Ressource aber nicht zur Verfügung steht, laufen die Regierungen Gefahr, den Wettlauf um die „Köpfe der Jugend“ gleichfalls an die radikal-fundamentalistischen Kräfte zu verlieren. Tritt Letzteres ein, verlieren sie die grundsätzliche Auseinandersetzung um die weitere ordnungspolitische Orientierung dieser wichtigen zentralasiatischen Staaten.

Eine solche Situation führt zu der Frage nach dem „Faktor Zeit“. Wie viel Zeit verbleibt den säkularen Regierungen und Europa, um diesen letztendlich ordnungspolitischen Wettbewerb zugunsten eines „Synchronisierens“ von säkularem Staatscharakter und Islam erfolgreich durchzustehen? Den Zeitfundus bestimmt angesichts der Stumpfheit der Ressourcen Repression und sozio - ökonomische Verbesserung weit gehend nur der Kampf um die Köpfe der nationalen Muslime.

Die Fragestellung nach den „nationalen Muslimen“ und dem Verhältnis zu ihnen führt den Umgang mit der säkular-islamischen Problematik in ZA in eine neue Qualität.

Gerade unter ihnen, den nationalen Muslimen, wächst das Bedürfnis heran, eigene, isla-misch verankerte Konzepte für die (Mit-)gestaltung nationaler Staatlichkeit zu entwerfen. Das ist von großer Bedeutung, weil sich die islamische Elite dieser Aufgabe bisher in keinem zentralasiatischen Staat gestellt hat. Für jene jungen Geistlichen aber besitzt die religiöse Bildung der „eigenen Gemeinde“ einen besonders hohen Stellenwert.

Ihnen gegenüber sollte sich weitsichtige „säkulare“ Politik um eine gemeinsame Einstiegs-strategie in den „Kampf um die Köpfe der nationalen Muslime“ bemühen. Ob das gelingt, hängt weitgehend davon ab, konkrete, für beide Seiten akzeptable Ziele zu formulieren. Das zentrale Kettenglied dafür ist die Verständigung über eine gemeinsame Perspektive im gemeinsamen Staat.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend auf die Frage zurück kommen, welche Rolle Europa und auch deutsche Außenpolitik bei all diesen Fragen spielt bzw. spielen sollte.

Vor allem sollte Europa dabei unterstützen, dass eine solche Verständigung über eine gemeinsame Perspektive im gemeinsamen Staat beginnt und von der Stelle kommt.

Zwar würde damit Europa politisches und zivilisatorisches Neuland betreten. Mit dieser neuen Herausforderung entspräche es jedoch zugleich gestalterischen Herausforderungen, wie sie ein gewollter, gemeinsamer euro-asiatischer Stabilitätsraum mit sich bringt.

Es ist jedoch offensichtlich, dass weder die OSZE, noch der Westen oder Russland über eine zivile Strategie für den Umgang mit dem „islamischen Faktor“ im eigenen politischen Raum verfügen.

Was wäre in der Auseinandersetzung mit Terrorismus mit dem Blick auf Zentralasien und den euro-asiatischen Raum zu leisten?

Eine entsprechende Strategie sollte sich in erster Linie um die sozio-ökonomischen und gesellschaftspolitischen Ursachen von Radikalisierung größerer Gesellschaftsschichten kümmern.

Sie müsste eine weitsichtige, klug konditionierte Integration des Islams und seiner politi-schen Vertreter in friedliche politische Prozesse sowohl innerhalb der zentralasiatischen Staaten, als auch des breiteren euro-asiatischen Raums anstreben.

Die europäischen Staaten, OSZE und EU sollten, sozusagen, „ihren Islamisten“ die Hand reichen. Das erfordert, ihnen ihren Platz bei der Ausgestaltung des eigenen nationalen Staates und seiner Systeme zu zugestehen, darunter im politischen. Das wäre zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger, als einer politischen Realität zu entsprechen: dass nämlich der politische Islam und seine Vertreter ihren Platz in den Gesellschaften ohnehin einnehmen, sie folglich einer „Platzzuweisung“ durch den Westen eigentlich gar nicht bedürften. Nur so können diese vor dem Abgleiten auf pan-islamistische Positionen bewahrt werden.

Letzteres erheischt, meine Damen und Herren, zweitens, diesen ihren Platz im euro-asiatischen politischen Raum zu zugestehen. Das entspräche den nationalen Realitäten. Vor allem müsste aus Europa folgende zentrale Frage beantworten, die tadschikische islamische Politiker, die sich heute zu einem reformerischen Weg durchgerungen haben, bereits 1993 bei einem Gespräch im deutschen Bundestag stellten: „Wir haben den säkularen Staatscharakter und das Präsidialregime in unserem Land anerkannt, uns zu demokratischen, parlamentarischen Spielregeln bekannt. Aber natürlich kämpfen wir, wie jede demokratische Partei im Westen, um die Macht. Sollten wir dereinst Wahlen gewinnen und eine Regierung bilden: Wie wird sich Europa uns gegenüber verhalten? Wird es unsere Regierung als gleichberechtigten Partner anerkennen oder wird uns das Schicksal der einstigen islamischen Wahlsieger in Algerien oder der Hamas in Gaza ereilen?“

Weder damals im Bundestag, noch danach erhielten sie eine Antwort!

Damit bleibt, meine Damen und Herren, meine Ausgangsthese offen: ob europäische und auch deutsche Außenpolitik sich für den Umgang mit dem politischen Islam im gemeinsamen politischen Raum zu konstruktiven Fragestellungen durchzuringen vermögen: Nämlich den islamischen Faktor in ein Element kooperativer Sicherheits- und Stabilitätstrategien für unsere gemeinsame euro-asiatische Region zu verwandeln.

Dr. Arne C. Seifert, Berlin, Botschafter a.D.

Diesem Manuskript lag ein Vortrag zu Grunde, den der Verfasser im Rahmen der "Friedensvorlesungen" an der Uni Kassel am 27. Juni 2011 gehalten hat.



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