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Essen wird Luxus

Asien: Enormer Preisauftrieb wirkt sich negativ auf Wirtschaftswachstum aus. Verteuerung von Nahrungsmitteln verschärft soziale Probleme

Von Thomas Berger *

In Asien gibt es ein neues Schreckenswort, das derzeit in allen Ländern der Region die Runde macht: Inflation. Ob Indien, China, Südkorea, überall klagen nicht mehr nur die Menschen auf der Straße, sondern gleichermaßen auch Politiker und Experten über drastisch steigende Preise. Jetzt schlägt auch die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) Alarm: Der anhaltende Preisauftrieb in dieser Dimension drohe das Wirtschaftswachstum in den einzelnen Ländern deutlich abzubremsen. »Inflation bleibt ein Problem«, warnte die ADB in ihrem jüngsten Bericht Ende Juli. Und das gelte ungeachtet der Tatsache, daß nach einem im Mai erreichen Höhepunkt eine leichte Entspannung eingesetzt habe. In den zehn größten Volkswirtschaften Asiens hat sich das durchschnittliche Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 2011 gegenüber dem Vorjahreszeitraum von 8,4 auf 8,1 Prozent verlangsamt.

Politik und Notenbanker versuchen gegenzusteuern, doch bislang mit mäßigem Erfolg. Indiens Währungshüter haben dieser Tage erneut den maßgeblichen Leitzins um 50 Basispunkte erhöht. Es ist der nunmehr elfte Schritt in diese Richtung seit März 2010. Inzwischen liegt der Satz bei 8,0 Prozent – verglichen mit den US-Zinsen nahe null ein wahrer Spitzenwert. Die Erhöhung gleich um einen halben Prozentpunkt zeigt, wie sehr die Notenbanker in Mumbai auf diese Maßnahme als Druckmittel setzen und wie wenig Alternativen sie sehen, sonst noch Einfluß auf die Preisentwicklung nehmen zu können. Indische Regierungsvertreter mutmaßen bereits, daß das Wirtschaftswachstum erstmals seit langem unter der Acht-Prozent-Marke bleiben könnte, auch wenn man offiziell von bisherigen Voraussagen noch nicht abweichen möchte.

Es sind noch keine dramatischen Einbrüche beim Wachstum der indischen Wirtschaft zu registrieren. Doch nicht nur auf dem Subkontinent zeigt sich die Konjunktur längst nicht mehr so dynamisch wie erhofft. Selbst China, das sei über zehn Jahren mit Zuwächsen des Bruttoinlandsproduktes (BIP) jenseits der Zehn-Prozent-Marke glänzte, hat seine Prognosen etwas nach unten korrigiert, die Ökonomie der »Werkbank der Welt« wächst etwas langsamer – falls man bei acht Prozent Zuwachs überhaupt von langsam sprechen kann. In Peking und bei zahlreichen ausländischen Experten wird das sogar begrüßt, denn die Konjunktur zeigte und zeigt deutliche Tendenzen einer sogenannten Überhitzung – in diesem Falle starken Preisauftrieb, vor allem bei Lebensmitteln, sowie eine enorme Immobilienspekulation inklusive Spekulationsblase.

In Südkorea hatte die dortige Zentralbank Mitte Juni ebenfalls erneut den Leitzins um 25 Basispunkte angehoben – dort war es die dritte Erhöhung im Jahr nach Januar und März. Im Mai hatte die koreanische Inflation mit 4,7 Prozent einen Höchstwert erreicht, liegt aber weiterhin knapp über der Vier-Prozent-Marke, die dort als Obergrenze normaler Preissteigerungen gilt.

In ihrem aktuellen Lagebericht warnt die Entwicklungsbank ADB nachdrücklich davor, die hohen Teuerungsraten gerade bei Nahrungsmitteln und auf dem Energiesektor in ihren Auswirkungen zu unterschätzen. Zumindest in einigen Ländern gebe es den Trend, diese Preissteigerungen abgekoppelt von denen des übrigen Warenkorbs zu betrachten – dabei haben gerade Benzin und Nahrungsmittel in den »Warenkörben« (mit denen die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten ermittelt werden; d.Red.) der aufstrebenden Staaten eine höhere Gewichtung als in denen der hochentwickelten Industrieländer.

Zwar hat sich das Inflationsrisiko seit dem späten Frühjahr wieder ein wenig verringert – in Indien stiegen die Preise zuletzt noch um 7,33 Prozent. Das war zwar immer noch heftig, aber die Teuerung lag wenigstens nicht mehr im zweistelligen Bereich wie Ende 2010 und zu Beginn dieses Jahres. Die war nicht nur weltwirtschaftlich geprägt, sondern wurde von zahlreichen windigen Händlern zusätzlich angefacht. Unter anderem die Preisexplosion bei Zwiebeln, einer Gemüsepflanze, deren Kostenpunkt in dem südasiatischen Land seit jeher auch ein Politikum ist, hatte im Januar Sondersitzungen des Kabinetts und wütende Protestaktionen auf den Straßen ausgelöst. In der Folge waren die Behörden verstärkt gegen Händler und Mittelsmänner vorgegangen, die große Bestände horteten, um sie zu Wucherpreisen absetzen zu können.

Die Nahrungsmittelpreise sind nicht zuletzt auch aufgrund der »Bio«-Treibstoffproduktion, einer enormen Börsenspekulation (weil Notenbankgeld in den USA und Westeuropa für die Banken so billig ist) gestiegen. Die permanenten Finanzkrisen (US-Verschuldung, Euro-Raum) und eine insgesamt hohe Volatilität des Weltmarktes bremsen nicht nur das Wirtschaftswachstum asiatischer Staaten. Auch der »Kampf gegen die Armut« (u.a. ein UN-Milleniumsziel) wird zunehmend aussichtslos. Wenn für viele Angehörige der unteren Mittelschichten Essen inzwischen zum Luxus geworden ist, sind für immer mehr Mittellose Hunger und Unterernährung tägliche Geißeln. Glaubt man der Regierung, lebten im Wirtschaftsjahr 2009–2010 (das in Indien immer vom April bis März geht) 32 Prozent der 1,2 Milliarden Einwohner in Armut (die offizielle Armutsgrenze wurde in Indien lange Zeit mit dem Gegenwert von 2100/2400 Kilokalorien pro Tag und Kopf angesetzt, die Weltbank legt umgerechnet einen US-Dollar pro Tag und Person zugrunde; d.Red.), Das waren nicht nur in absoluten Zahlen mehr als in den zwei Jahren zuvor. Da die Armutsgrenze zudem nur eine statistische Trennlinie ist und viele Familien zu normalen Zeiten nur wenig mehr als das dafür angesetzte Einkommen erzielen, lassen spürbare Preisschübe auch die Zahl der offiziell Armen wieder zunehmen.

* Aus: junge Welt, 4. August 2011


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