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Armenien und Türkei: Fußball-Diplomatie

Armeniens Präsident Sersch Sargsjan hat die Bereitschaft verkündet, die Beziehungen zur Türkei neu zu ordnen.

Von Alexander Iskandarjan *

Das ist kein neues Wort in Armeniens Türkei-Politik. Solche Erklärungen wurden wiederholt abgegeben, darunter vom vorherigen Staatschef Robert Kotscharjan und vom ehemaligen Außenminister Wardan Oskanjan. Neu an der jüngsten Erklärung ist nur, dass sie vom neuen Präsidenten stammt.

Armenien erklärte stets seine Bereitschaft, ohne Vorbedingungen die diplomatischen Beziehungen zur Türkei aufzunehmen und die Grenzen zu öffnen. Die Schwierigkeit der armenisch-türkischen Beziehungen ist nicht in Jerewan zu suchen, sondern in Ankara.

Die Türkei knüpft die diplomatischen Beziehungen und die Öffnung der Grenzen an mehrere Bedingungen, vor allem an den Verzicht Armeniens auf Gebietsansprüche und die Forderung, dass der Genozid an den Armeniern anerkannt werde. Zudem fordert Ankara die Beilegung des Karabach-Konflikts. Der Unterschied im Herangehen beider Staaten an beide Probleme ist offensichtlich.

Doch die gegenwärtige Situation ist in gewisser Hinsicht neu - nicht nur aufgrund der Tatsache, dass Armenien einen neuen Präsidenten hat. Es gibt auch Anzeichen für ein Tauwetter in den armenisch-türkischen Beziehungen. Am morgigen Samstag treffen zum Beispiel in Jerewan die Fußballnationalmannschaften der beiden Länder zu einem WM-Qualifikationsspiel aufeinander. Sargsjan lud den türkischen Präsidenten Abdullah Gül zu dem Spiel ein, der trotz Kritik türkischer Nationalisten sein Kommen zusagte.

Womit hängt das zusammen? Meiner Ansicht nach will die Türkei in der Welt und der Region (Südkaukasus) einen neuen Platz einnehmen. Für die Türkei ist der Kaukasus im Vergleich zu Europa und dem Nahen Osten nicht die wichtigste Region. Aber nach allem zu urteilen, will die Türkei auch im Kaukasus ihr Spiel betreiben.

Die Kontakte Ankaras mit seinen Nachbarstaaten sind nicht gerade die besten, weil die Amerikaner im Nord-Irak einen de facto unabhängigen Kurdenstaat geschaffen haben, was ein großes Problem für die Türkei ist. Im Kaukasus haben die Türken Schwierigkeiten, weil sie zu Armenien überhaupt keine Beziehungen hat. An Aserbaidschan grenzt die Türkei praktisch nicht, höchstens an die Nachitschewan-Enklave.

Das Verhalten der Türkei während des Fünftagekriegs in Südossetien und die anschließende Entwicklung danach bestätigen erneut, dass Ankara ein eigenes Spiel im Kaukasus betreiben, sich von den USA loslösen und auch Russlands Interessen in der Region berücksichtigen will.

Vorerst sind das nur Absichten, die sich realisieren können - oder auch nicht können. Auf jeden Fall ist Armeniens Politik absolut klar: Ein Blick auf Georgien dürfte genügen. Jetzt, da der Autoverkehr nach Georgien nahezu unterbrochen ist, Chaos in den Häfen herrscht und auch der Bahnverkehr lückenhaft ist, wäre es für Armenien sehr günstig, dass Güter aus Russland über türkische Häfen geliefert würden. Technisch ist das möglich, politisch dagegen nicht.

In diesem Sinne verfolgt auch Armenien sein eigenes Spiel und berücksichtigt natürlich ebenfalls Russlands Standpunkt dazu. Daraus wird nicht unbedingt etwas werden, aber wir sehen, dass alle drei Länder gemeinsam etwas zu unternehmen wagen.

Was die Initiative des türkischen Premiers Recep Tayyp Erdogan über die Zusammenarbeit für die Sicherheit und Stabilität im Kaukasus betrifft, so ist der Erdogan-Plan als Bestandteil dieses Spiels zu betrachten.

Selbstverständlich erwartet niemand, dass Erdogans Plan sofort angenommen und im Südkaukasus sofort auf Zustimmung bei den Menschen treffen wird, dass sich die Aserbaidschaner mit den Armeniern und die Georgier mit den Osseten anfreunden.

Der Erdogan-Plan ist nur eine der Formen, mit denen die Türkei dem Südkaukasus ein Signal gibt: dass sie in der Region eine bestimmte Rolle zu spielen beabsichtigt. Ist die Verwirklichung dieses Plans in der heutigen politischen Situation möglich? Nein, natürlich nicht. Ich glaube, alle verstehen das, auch die Türken.

Letztmalig kamen solche Signale aus der Türkei zu Beginn der 90er Jahre, als die südkaukasischen Länder ihre Unabhängigkeit gerade erst erhalten hatten und Ankara eine Sonderrolle beanspruchte. Doch das war schnell vorbei.

Seitdem war die Rolle der Türkei in der Region statisch. Streng genommen erschöpfte sich Ankaras Politik im Folgenden: Mit Georgien sind wir Nachbarn, um zu reisen, um Straßen zu bauen und Grenzpunkte zu eröffnen; mit Aserbaidschan sind wir ethnisch verwandt und werden deshalb Freundschaft halten, aber mit Armenien haben wir Probleme, deshalb schließen wir lieber die Grenzen. Das ist nicht eine Politik, vielmehr eine Konstante.

Zur Zeit versucht die Türkei, an verschiedenen Orten neue Formen der Politik in der Region zu finden. Dazu gehören die Instandsetzung des Klosters Achtamar ebenso wie die Gespräche über Güls Besuch des Fußballspiels in Jerewan. Dazu gehört auch der Erdogan-Plan, der übrigens mit Sicherheit nicht angenommen wird. Wichtig ist nur, dass das Signal empfangen worden ist und dass darauf Antworten kommen, die in unserer Region früher oder später etwas verändern können.

* Alexander Iskandarjan ist Direktor des Kaukasus-Instituts (Jerewan) und Mitglied des Expertenrates der RIA Novosti.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. September 2008; http://de.rian.ru



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