Rohstoffschatz unter dem auftauenden Eis
Öl- und Gaskonzerne aus aller Welt strecken die Hände nach der Nordpolregion aus
Von Kurt Stenger *
Die Anrainerstaaten der Arktis wollen dort ungestört Schätze heben. Greenpeace ist den Geostrategen in die Quere gekommen.
Der Ölkonzern Gazprom Neft Shelf ist Betreiber der Bohrinsel »Priraslomnaja«, die im September von Greenpeace-Aktivisten kurzzeitig besetzt wurde. Sie soll ein Ölfeld in der Petschorasee mit 40 schrägen Bohrungen binnen elf Jahren leerpumpen – 72 Millionen Tonnen werden hier vermutet. Der Förderbeginn wurde schon um mehrere Jahre verschoben – derzeit ist 2014 als Starttermin vorgesehen. Dabei sind die Verhältnisse hier noch einfach: Das Meer ist an der Bohrstelle nur 20 Meter tief.
Andere Lagerstätten in der Arktis werden an Stellen vermutet, wo das Polarmeer tausende Meter tief und neun Monate im Jahr zugefroren ist. Für die Förderung bräuchte es riesige Kapitalsummen und technisches Know-how, das gerade in Russland fehlt. Dadurch entstehen ungewöhnliche Kooperationen wie die des weltgrößten Ölkonzerns Rosneft mit der britischen BP. Ausgerechnet BP: Der Konzern verursachte 2011 im Golf von Mexiko die bislang größte Umweltkatastrophe in der US-Geschichte. Sollte im Polarmeer so etwas geschehen, wären die Folgen noch schlimmer: Wegen der niedrigen Wassertemperatur würde sich auslaufendes Öl erheblich langsamer abbauen als in warmen Gefilden.
Dass im hohen Norden Betriebsamkeit ausgebrochen ist, liegt im Klimawandel begründet. Da die Eiskappen schmelzen, gibt es leichteren Zugang zu Lagerstätten. Geologen schätzen, dass in der Arktis 30 Prozent der unerschlossenen Gas- und ein Siebtel der unerschlossenen Ölvorkommen lagern. Außerdem werden hier große Mengen an Kohle, Gold und Diamanten vermutet. Am weitesten ist übrigens Norwegen, dessen Staatskonzern Statoil seit 2008 Gas auf einer Breite von 70 Grad Nord fördert.
Vor allem zieht die Arktis die großen Ölkonzerne an, deren leicht zugängliche konventionelle Lagerstätten zur Neige gehen. Bei Erdöl werden hier etwa 90 Milliarden Barrel (à 159 Liter) vermutet – eine Menge, die den jetzigen globalen Ölverbrauch für 13 Jahre decken würde. In Kanada hat Chevron eine Bohrlizenz erhalten. Nach Alaska hat Shell seine Finger ausgestreckt. Der niederländisch-britische Konzern hatte 2008 für zwei Milliarden US-Dollar Förderlizenzen erworben und fünf Milliarden Dollar investiert. Sehr weit ist man freilich nicht: Im Sommer 2012 mussten Probebohrungen gestoppt werden, bevor sie ölführende Schichten erreichten. Einige Monate später havarierte eine von zwei Bohrinseln beim Transport im Golf von Alaska.
Greenpeace hat US-Präsident Barack Obama aufgefordert, wegen fehlender Notfallpläne alle Bohrungen sofort zu stoppen. Während die Republikaner einen Freibrief für Ölkonzerne wünschen, möchten Obamas Demokraten die Förderung zumindest in Naturschutzgebieten verbieten. Die Erinnerung an die Ölpest nach der Havarie des Tankers »ExxonValdez« 1989 vor Alaska ist noch wach.
Derartige Skrupel kennt die russische Führung nicht. Sie unterstreicht ihre Ansprüche mit zunehmender militärischer Präsenz. Außerdem werden Expeditionen losgeschickt, die feststellen sollen, dass der Lomonossow-Rücken am Meeresboden zwischen Sibirien und Grönland eine Fortsetzung des russischen Festlandssockels ist und daher zum eigenen Wirtschaftsgebiet gehört. Dummerweise hat Dänemark ähnliche Ideen und will feststellen lassen, dass das Gebirge zur von Kopenhagen regierten Insel Grönland gehört.
Solche Bestrebungen ließen sich beenden, wenn man es wie in der Antarktis machen würde: Die Südpolregion ist durch einen Vertrag und ein 50-jähriges Moratorium auf die Förderung von Rohstoffen geschützt.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 6. November 2013
Flaggenstaat will »Arctic Sunrise« freibekommen
UN-Seegerichtshof verhandelt über Klage der Niederlande gegen Russland
Von Tobias Müller, Amsterdam **
Die Festnahme von 30 Greenpeace-Aktivisten durch russische Sicherheitskräfte hat nun auf internationaler Ebene ein juristisches Nachspiel.
Ein heikler Fall steht heute vor dem Internationalen Seegerichtshof in Hamburg zur Verhandlung an: Die niederländische Regierung fordert Russland auf, 30 Greenpeace-Aktivisten vorläufig aus der Haft zu entlassen, die seit sechs Wochen festgehalten werden, und deren gekapertes Schiff freizugeben. Russland hat angekündigt, die Einschaltung des UN-Gerichts nicht zu akzeptieren und die Verhandlung zu boykottieren.
Zwei Aktivisten waren Mitte September aus Protest gegen Ölbohrungen im Nordpolgebiet auf eine Gazprom-Bohrinsel geklettert. Die russische Küstenwache enterte am folgenden Tag das Greenpeace-Schiff »Arctic Sunrise« in internationalen Gewässern und nahm die 30-köpfige Besatzung fest. Die »Arctic Sunrise« fährt unter niederländischer Flagge, die Besatzung kommt aus 18 Ländern, darunter vier Russen. Der niederländische Außenminister Frans Timmermans begründet die Klage damit, dass ein enternder Staat in freien Gewässern erst die Zustimmung des Flaggenstaates einholen muss, bevor er an Bord des betreffenden Schiffs gehen darf. Dies habe Russland nicht getan.
Den Aktivisten, die erst nach Murmansk gebracht wurden und nach Sankt Petersburg verlegt werden sollen, drohen lange Haftstrafen: Zwar wurde der Vorwurf der »Piraterie« nach internationaler Kritik mittlerweile auf »Rowdytum« reduziert, aber auch hierauf stehen in Russland bis zu sieben Jahre Haft. Albert Kuiken, ein früherer Greenpeace-Kapitän, wies die Vorwürfe in einem Artikel in der Tageszeitung »Volkskrant« am Dienstag deutlich zurück. Die Aktivisten hätten sich lediglich strafbar gemacht, indem sie die Sicherheitszone der Gazprom-Plattform verletzten.
Anfang Oktober erwirkte Den Haag zunächst ein Schlichtungsverfahren. Dieses räumte der russischen Seite zwei Wochen ein, der Forderung zu entsprechen, die Aktivisten bis zur Urteilsverkündung auf freien Fuß zu setzen. Nach Verstreichen dieser Frist folgte die Klage beim Internationalen Seegerichtshof. Dessen 21 Richter werden die Verhandlung leiten. Erwartet wird eine Verfahrensdauer von rund einem Monat. Da dem Gremium kein Niederländer angehört, hatte das Land nach den Regeln des Gerichtshofs ein Vorschlagsrecht auf einen zusätzlichen Richter. Die Wahl fiel auf den Briten David Anderson, der am Montag vereidigt wurde.
Die Sprecherin der Greenpeace- Aktivisten, die Niederländerin Faiza Oulahsen, bat zuletzt in einem Brief König Willem Alexander um Hilfe. Darin klagte sie über ihre Haftbedingungen: »Leckende Wasserleitungen, das Fenster schließt nicht, unzureichende sanitäre Einrichtungen«. Zudem kämen nachts Ratten in die schmutzige Zelle.
Willem Alexander wird Ende der Woche in Moskau erwartet. Sein Besuch findet im Rahmen des »Niederlande-Russland-Jahres« statt, das die diplomatischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern vertiefen soll. Dabei wird er auch Präsident Wladimir Putin treffen. Festliche Stimmung dürfte in Moskau nicht aufkommen, zumal die Beziehungen zwischen beiden Staaten seit Monaten angespannt sind. Zu Jahresbeginn protestierte Außenminister Timmermans beim russischen Parlament gegen die Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung. Als Putin im Frühjahr nach Amsterdam kam, erwartete ihn eine Großdemonstration gegen die Diskriminierung Homosexueller. Kurz nach der Beschlagnahmung der »Arctic Sunrise« nahmen Polizisten in Den Haag einen hochrangigen russischen Diplomaten fest, weil er betrunken seine Kinder misshandelt habe. Er sagte dagegen später aus, die Polizisten seien nachts in sein Haus eingefallen und hätten ihn vor den Augen seiner Kinder geschlagen. Präsident Putin forderte Den Haag wegen Verstoßes gegen die diplomatische Immunität zu einer Entschuldigung auf, die Timmermans auch umgehend lieferte.
** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 6. November 2013
Geschützte Freiheit auf den Meeren
Bislang nur wenige Urteile am UN-Seegerichtshof
Von Hermannus Pfeiffer ***
Der Internationale Seegerichtshof (ISGH) in Hamburg, der 1996 seine Arbeit aufnahm, ist die einzige Einrichtung der Vereinten Nationen auf deutschem Boden. Gegründet wurde das unabhängige Gericht, um Streitigkeiten über das weltweite Seerechtsübereinkommen von 1982 zu regeln. Das nach einem Jahrzehnt zäher Verhandlungen geschlossene Abkommen regelt die Freiheit der Meere und das »gemeinsame Erbe der Menschheit«, das von den Fischgründen in der Ostsee über Erdölreviere vor Brasiliens Küste bis hin zu Seltenen Erden am Grund des Pazifiks reicht. Einer der wenigen Outlaws blieben die USA, die das Seerechtsübereinkommen nicht unterzeichnet haben.
21 von der UN-Vollversammlung gewählte Richter aus allen Kontinenten urteilen in dem großzügigen Amtsgebäude an der noblen Elbchaussee. Präsident ist der Japaner Shunji Yanai. Die Zahl der Fälle blieb bislang überschaubar: Kaum zwei Dutzend Entscheidungen wurden getroffen. Doch ISGH-Urteile haben wegweisende Bedeutung. So wurden 1999 im Fall »St. Vincent und die Grenadinen gegen Guinea« – dessen Behörden hatten ein Fischereiversorgungsschiff gekapert – Rechte und Pflichten in küstennahen Gebieten geklärt. Die Hoheitsgewässer reichen heute 12 Seemeilen (über 20 Kilometer) ins Meer hinaus; in seiner »Ausschließlichen Wirtschaftszone« kann der Anrainerstaat bis zu 200 Seemeilen (350 Kilometer) über natürliche Ressourcen, über Fischgründe und Bodenschätze verfügen.
2011 stellte der Seegerichtshof klar, dass für Umweltschäden beim Abbau von maritimen Rohstoffen die ausführenden Unternehmen haften – selbst wenn der Vertrag mit dem Anrainerstaat eine solche Haftung ausschließt. Das Urteil erging gegen den kanadischen Bergbaukonzern Nautilus Minerals, der vor der Pazifikküste von Nauru in 5000 Metern Wassertiefe Manganknollen abbauen will.
Für die Zukunft dürfte es angesichts neuer technischer Möglichkeiten mehr Streitfälle geben. Nicht allein China und Japan zoffen sich um unbewohnte Mini-Inseln, vor deren Küsten reiche Bodenschätze vermutet werden: Etwa 100 solcher territorialer Streitigkeiten köcheln weltweit. Und nach welchem Schlüssel sollen Gewinne aus der Förderung von Rohstoffen außerhalb der staatlichen Wirtschaftszone verteilt werden, die als »gemeinsames Erbe der Menschheit« allen Staaten gehören? Noch finden in den Ozeanen lediglich Probeerkundungen statt, aber für die Zukunft könnte der Kammer für Meeresbodenstreitigkeiten am Seegerichtshof eine entscheidende Rolle zufallen.
*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 6. November 2013
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