Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nordwestpassage offen

Messungen im dünnen Eis: Ein deutsches Forschungsschiff in der Arktis

Von Wolfgang Pomrehn *

Die Nordwestpassage ist eisfrei. Seit Dienstag (23. Aug.) zeigen die Satellitendaten, daß auch die letzten Reste der geschlossenen Eisdecke verschwunden sind, die für gewöhnlich im kanadischen arktischen Archipel den Seeweg zwischen Nordatlantik und Pazifik versperrt. Schiffe könnten nun nahezu ungehindert – auf einzelne Eisschollen müßte sicherlich noch achtgegeben werden – an den kanadischen Inseln und den ebenfalls eisfreien Küsten Alaskas entlang zur Behringstraße und von dort in den Nordpazifik fahren. Nach 2007 und 2010 ist diese legendäre Schiffahrtsroute zum dritten Mal seit Menschheitsgedenken offen.

Zu Beginn des 20.Jahrhunderts hatte eine Expedition unter der Führung des norwegischen Polarforschers Roald Amundsen noch zweimal im Eis überwintern müssen, bis sie sich als erste auf diesem Weg mit einem Schiff zum Pazifik durchkämpfen konnte. Amundsen war seinerzeit auch der erste, der die Nordostpassage entlang der russischen Küsten bezwang. Auch diese ist im letzten Jahrzehnt erstmalig eisfrei gewesen und in diesem Jahr bereits seit einigen Wochen passierbar.

Unterdessen hat am Montag (22. Aug.) der deutsche Forschungseisbrecher »Polarstern« ohne große Schwierigkeiten den Nordpol erreicht. 1991 und 2001, bei seinen beiden vorhergehenden Fahrten an den nördlichsten Punkt der Erde, war er von je einem weiteren Eisbrecher begleitet worden. Das Packeis auf dem zentralen arktischen Ozean war noch deutlich mächtiger.

Am Bord des Schiffs ist neben der 43köpfigen Crew ein Team von 55 Wissenschaftlern und Technikern aus sechs Ländern. Unter dem Titel »Transarktische Studie des Arktischen Ozeans im Wandel« sollen die Veränderungen der Eisdecke, der Meeresströmungen und der Basis der maritimen Nahrungsketten studiert werden. Meeresbiologen nehmen zum Beispiel Kleinstlebewesen im und unterm Eis unter die Lupe, andere Forscher beschäftigen sich mit Ablagerungen am Meeresgrund, Meeresströmungen und Eigenschaften des Eises.

Das Schiff hatte sich am 5. August aus dem nordnorwegischen Tromsø auf den Weg gemacht, ließ Spitzbergen links liegen und schwenkte nördlich der russischen Inseln Semlja Franza Iossifa (Franz-Josef-Land) auf einen Kurs entlang des 60. östlichen Längengrades ein. Schon ab dem 9. August ging die Fahrt bei Temperaturen um null Grad Celsius durch dichtes Packeis, dessen Grenze in diesem Jahr allerdings so weit nördlich wie selten zuvor liegt.

Überhaupt sind die Nachrichten vom Zustand des Eises besorgniserregend. Im Augenblick deutet alles darauf hin, daß sich das Meereis in diesem Jahr fast so weit zurückziehen wird wie 2007. Vor vier Jahren hatte es Mitte September – zu dieser Zeit erreicht die Ausdehnung des Eises gewöhnlich ihr Minimum – den bisher mit Abstand niedrigsten Wert erreicht. In den Folgejahren zog es sich nicht ganz so weit zurück, blieb aber jeweils deutlich unter dem vormaligen Minusrekord von 2006. Mit anderen Worten, wenn sich auch nicht Jahr für Jahr das Eis im Sommer weiter zurückzieht, so zeigt sich doch ein starker negativer Trend, der von jährlichen Schwankungen überlagert wird.

Das drückt sich auch in der Eisdicke aus. In den 1970er und 1980er Jahren gingen die Lehrbücher noch von einer mehrere Jahre alten, im Durchschnitt fünf Meter dicken Eisschicht auf weiten Teilen des Arktischen Ozeans aus, die im Sommer etwa einen Meter verliert und im Winter weder anfriert. Noch 2001 maß die »Polarstern« auf ihrer ungleich mühsameren Fahrt eine durchschnittliche Eisdicke von zwei Metern. In diesem Jahr waren es hingegen im Durchschnitt nur noch 0,9 Meter. Die Fahrt ging meist durch dünnes einjähriges Eis, das hier und da von bis zu drei Meter dicken Eisrücken aus übereinander geschobenen Schollen durchzogen war.

Wie wird die Eisdicke eigentlich festgestellt? Zum einen machen die Forscher von der Brücke der »Polarstern« stündliche umfangreiche Eisbeobachtungen. Nach einem international genormten System werden die Anteile der verschiedenen Eisarten, der freien Flächen und der Tauwasserlachen auf dem Eis registriert. Zusätzlich wird die Dicke der vom Schiff verdrängten und daher neben dem Rumpf senkrecht aus dem Wasser aufragenden Schollen vermessen. Desweiteren läuft das Schiff in größeren Abständen besonders stabile Schollen an, die die Forscher betreten können. Dort werden dann allerlei Proben von im Eis lebenden Algen genommen und auch das Eis durchbohrt. Dadurch läßt sich dessen Dicke feststellen, zudem können Eis- und Wassertemperatur gemessen sowie Wasserproben gezogen werden.

Schließlich werden zur Messung der Eisdicke auch noch Flüge mit einem Hubschrauber unternommen, den die »Polarstern« mitführt. Unter diesen wird eine Radarsonde gehängt, mit der sich das Eis recht genau vermessen läßt. Auf diese Art werden kilometerlange detaillierte Eisprofile aufgezeichnet. All diese Daten über Eisdicke und Bedeckunsgrad dienen nicht nur der Beschreibung des jetzigen Zustands, die unter anderem wichtig ist, um die Veränderungen zu dokumentieren. Sie können auch helfen, die Beobachtung mit Satelliten zu verbessern. Eine ganze Reihe von Forschungssatelliten verschiedener Länder überfliegt den Nordpol jeweils mehrmals täglich. Deren Radar- und Mikrowellensensoren können natürlich im Prinzip ein viel umfassenderes Bild liefern als einzelne Expeditionen. Doch dafür müssen ihre Messungen immer wieder mit Untersuchungen vor Ort verglichen werden. Nur so läßt sich die richtige Interpretation der Satellitendaten finden.

Die »Polarstern« setzt unterdessen ihre Fahrt in die Gewässer nördlich des kanadischen Archipels westlich von Nordgrönland fort. Dort ist das Meereis seit jeher besonders dick – auch zur Zeit noch –, weshalb diese Gegend die bisher am schlechtesten erforschte Region im nicht mehr ganz so ewigen Eis ist

* Aus: junge Welt, 25. August 2011


Zurück zur Arktis-Seite

Zur Klima-Seite

Zurück zur Homepage