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Aufstand der Wohnungslosen

Nach brutaler Räumung. Welle von Landbesetzungen im Norden Argentiniens

Von Benjamin Beutler *

Eine Woche nach der gewaltsamen Räumung eines Grundstücks im Norden Argentiniens weiten sich nicht nur die Proteste gegen den Eigentümer des Bodens, das Zuckerunternehmen »Ledesma S.A.«, aus. Auch Forderungen von Landlosenorganisationen nach Wohnraum sind durch die brutale Polizeiaktion neu entfacht worden. Gegenüber dem Rundfunksender »Radio 10« kündigte der Anwalt der »Gewerkschaft der Arbeiter und Angestellten der Zuckerfabrik Ledesma«, Enrique Washnaider, eine Ausweitung von Landbesetzungen an. »Die Maßnahmen werden auf die ganze Provinz Jujuy ausgeweitet«, so der Anwalt. Vergangenen Donnerstag waren in der Ortschaft Libertador General San Martín 350 Polizisten in ein von 700 Landlosen-Familien bewohntes 40-Hektar-Gelände nahe der Zuckerfabrik eingedrungen. Vier Menschen, darunter ein Polizist, waren durch Kopfschüsse ums Leben gekommen. Das geräumte Gelände gleicht noch immer einem Schlachtfeld.

Seit dem blutigen Vorfall breiten sich die Besetzungen in der gesamten Nordprovinz Jujuy aus. Zu Wochenbeginn seien in acht Ortschaften mehrere Grundstücke okkupiert worden. In San Pedro, Perico, Pampa Blanca, Caimancito, La Mendieta, Los Lapachos, Puesto Viejo und Fraile Pintado bauten obdachlose Familien ihre Zelte und provisorischen Unterkünfte auf, vermeldeten Polizeiberichte am Donnerstag. Dabei werden nicht nur »Ledesma«-Grundstücke in Beschlag genommen. Nahe der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy ließen sich rund 30 Familien auf einem freien Terrain zwischen Bahngleisen und dem internationalen Provinzflughafen »Dr. Horazio Guzmán« nieder. »Wir werden wieder gehen, aber nur dann, wenn wir im Tausch etwas anderes bekommen«, wird eine der rund 100 Beteiligten von der konservativen Tageszeitung La Nación zitiert. Während die Besetzer die Brachfläche mit Macheten von dornigem Buschwerk befreiten, sorgen sich die Betreiber des Flughafens um die Sicherheit. »Wenn die Leute auf unsere Seite kommen, wird es gefährlich, es gibt hier viele Wertsachen«, so Sicherheitschef Jorge Luis Subirats.

Die Besetzer verweisen darauf, daß das Land niemandem gehöre und sie es aus »reiner Not« besetzt hätten. Sie wiesen zudem die Berichterstattung vieler Medien zurück, die sie als »Störer der öffentlichen Sicherheit« oder Kriminelle verunglimpfen.

Die sozialdemokratische Provinzregierung will die Wogen glätten. »Für jede Familie, die es braucht« kündigte der Gouverneur Walter Barrionuevo die Vergabe von Land an. Er gilt als Verbündeter der Regierung um Cristina Fernández de Kirchner. Das Provinzparlament verabschiedete am Dienstag im Eilverfahren ein Gesetz, das das Unternehmen »Ledesma« dazu verpflichtet, den vertriebenen Familien 40 Hektar Land zur Verfügung zu stellen. Die Kosten für das Grundstück wird die Provinz tragen, allerdings muß der Preis noch von einem Gericht bestimmt werden.

Regierungskritische Medien spekulierten daraufhin über eine »panische Enteignung« des »Ledesma«-Besitzes, um die »sozialen Proteste um jeden Preis zu beruhigen«. Zudem kündigte Barrionuevo eine Untersuchungskommission an, um die Verantwortlichkeit für den tödlichen Polizeieinsatz zu klären.

Juan Carlos Alderete von der linken »Strömung für Klasse und Kampf« (CCC) macht die verfehlte Wohnungspolitik der Regierung und das Unternehmen für die Wohnungsnot und »soziale Ungleichheit« verantwortlich. »Was bisher unter den Teppich gekehrt wurde, kommt nun ans Tageslicht«, so der CCC-Politiker.

Fehlender Wohnraum ist ein drängendes Problem in Argentinien. In den vergangenen Monaten kam es immer wieder zu Besetzungen. Im Dezember hatten Obdachlose ein Zeltlager in einem Park in Buenos Aires errichtet. Bei der Räumung des Geländes durch die Polizei waren vier Besetzer erschossen worden.

* Aus: junge Welt, 5. August 2011


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