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Argentinien außer Tritt

Knapp zwei Wochen vor den Parlamentswahlen ist die wirtschaftliche Situation Hauptthema. Regierung von Präsidentin Fernández de Kirchner droht Verlust ihrer Mehrheit

Von Johannes Schulten *

Regelmäßige Wirtschaftskrisen gehören zu Argentinien wie gegrilltes Rindfleisch und unfreundliche Taxifahrer. Seit den 70er Jahren hat das Land etwa alle zehn Jahre einen ökonomischen Totalzusammenbruch hingelegt: Zu Beginn der Militärdiktatur 1976 und an deren Ende 1983 ebenso wie 1988/89 und – mit der größten Tragweite – am Anfang des neuen Jahrtausends. Eigentlich könnte die Regierung um Cristina Fernández derzeit drei Kreuze machen. Seit ihr verstorbener Ehemann, Néstor Kirchner, 2003 zum Präsidenten gewählt wurde und das Projekt des »Kirchnerismus« einleitete, erlebt das Land die längste Phase ökonomischer Stabilität seiner jüngeren Geschichte. Profitieren wird die Regierung aller Voraussicht jedoch nicht davon, wenn am 27. Oktober die Hälfte der Mitglieder der Abgeordnetenkammer sowie ein Drittel der Senatoren gewählt werden. Im Gegenteil: Der Regierungspartei Frente para la Victoria (Front für den Sieg; FPV) droht eine Schlappe.

Hauptursache dafür ist die ökonomische Lage. Zwar wächst die Wirtschaftsleistung immer noch, im ersten Halbjahr 2013 um etwa zwei Prozent. Aber es sind nicht mehr die »chinesischen Zuwachsraten« der vergangenen Jahre. Besonders die anhaltend hohe Inflation von über 20 Prozent und die geltenden Beschränkungen bei Devisenkauf und Importen sorgen für Ärger.

»Der Kirchnerismus scheint in eine Phase des politischen Stand-by eingetreten zu sein«, stellte Ende September das linksliberale Wochenmagazin debate fest. Tatsächlich vermittelt die Regierung momentan nicht den Eindruck, etwas an den Problemen ändern zu können. Hinzu kommt, daß sich die Präsidentin seit etwa einer Woche wegen eines Blutgerinnsels im Kopf im Krankenhaus befindet. Voraussichtlich bis Ende des Monats wird sie ihre Amtsgeschäfte nicht führen können. Vertreten wird sie von ihrem wenig beliebten Vize, Wirtschaftsminister Amado Boudou.

Knackpunkt ist das drohende Defizit in der Handelsbilanz. Seit etwa zwei Jahren versucht die Regierung, durch protektionistische Maßnahmen, die Warenimporte und den Abfluß von Devisen zu begrenzen. Eine ausgeglichene Zahlungsbilanz ist für Argentinien lebensnotwendig. Seit Buenos Aires sich weigert, einen Großteil der privaten Gläubiger früherer Schulden zu bedienen, bekommt es praktisch keine Kredite, der Haushalt muß aus laufenden Einnahmen bezahlt werden.

Neben einer Reihe von Investitionsauflagen für ausländische Firmen wurde der Devisenzugang für Privatleute wie Unternehmen begrenzt. Wer offiziell Peso gegen US-Dollar oder Euro eintauschen will, muß nachweisen, woher das Geld kommt. Folge ist ein blühender Schwarzmarkt. Zwar konnte ein Absinken des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten durch Einkommenssteigerungen und regelmäßige Anhebung des Mindestlohns bisher verhindert werden und haben die Realeinkomen in den letzten Jahren vielfach sogar zugenommen. Doch da die Banken sehr niedrige Zinssätze zahlen, ist es schwer, Geld zu sparen. Außerdem kann nach Ansicht von Experten keine Volkswirtschaft auf Dauer mit 20 Prozent Inflation leben.

Martín Schorr, Wirtschaftswissenschafler der Universität von Buenos Aires, forderte kürzlich in der Tageszeitung página 12 mehr Initiative in der Industriepolitik – etwa um die Automobilindustrie zu fördern. Diese war in den 90er Jahren stark geschrumpft und befindet sich seit geraumer Zeit wieder im Aufwind. Gleichzeitig basiert sie im wesentlichen auf Importen. Anders als etwa China oder Brasilien ist es Argentinien bisher nicht gelungen, Produktionsanlagen oder Vorprodukte im eigenen Land zu fertigen. Deren Einkauf belastet die Handelsbilanz und läßt Devisen abfließen, die anderweitig gebraucht würden.

Eine aktive Industriepolitik ist zudem notwendig, weil sich das internationale Umfeld verschlechtert. Das gilt nicht nur für die fallenden Weltmarktpreise für Soja, einem der wichtigsten Exportgüter des Landes. Auch der Wirtschaftskurs des Nachbarn Brasilien wird in Buenos Aires mit Sorge verfolgt. Argentiniens bedeutendster Handelspartner hat seit Jahresbeginn seine Währung um 15 Prozent abgewertet – was die argentinischen Exporte dorthin erheblich belastet.

Während sich die Regierung schwer tut, setzt die rechte Opposition weiterhin auf neoliberale Konzepte wie Haushaltskürzungen. Doch auch sie konnte bei den Vorwahlen nicht punkten. So kam das Rechtsbündnis PRO lediglich auf etwas über sechs Prozent der Stimmen. Großer Favorit für die Parlamentswahlen ist der Peronist Sergio Massa mit seinem Bündnis »Front für die Erneuerung«. Der 41jährige hatte sich bei den Vorwahl in der Provinz Buenos Aires überraschend gegen den Kandidaten des Präsidentinnenlagers durchgesetzt, aus dem Massa eigentlich kommt – er war bis 2009 Kabinettschef. Nach angeblich despektierlichen Äußerungen über die Präsidentin gegenüber der US-Botschaft (Wikileaks-Enthüllungen) mußte er jedoch sein Amt räumen.

Massas Konzept bleibt schwammig. Er predigt »Kontinuität«, will »weniger Korruption«, mehr »Reformen« und mehr »Sicherheit« in den Städten. Klar positionierte er sich allerdings gegen eine stärkere Besteuerung der mächtigen Agraroligarchie, wie sie von der Regierung Kirchner vertreten wird: »Um zu wachsen und sich zu entwickeln braucht der Agrarsektor weniger Hindernisse – die Regierungspolitik haben ihm enorm geschadet, « sagte er der Zeitung La Nación.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 15. Oktober 2013


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