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Die Armut ist geblieben

Argentinien setzte 2002 einen Schuldenschnitt gegen seine Gläubiger durch - die sozialen Probleme wurden nicht gelöst

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Die griechische Tragödie von Finanzkrise, Staatsverschuldung und Gürtel-enger-Schnallen wurde in Argentinien schon vor zehn Jahren aufgeführt. 2002 verkündete das Land schließlich den Staatsbankrott. Kann dies ein Vorbild für Griechenland sein?

In den Jahren der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 stieg die argentinische Auslandsverschuldung von 8,3 Milliarden auf 45 Milliarden Dollar. 1999 hatte die Verschuldung über 120 Milliarden Dollar erreicht. Auf dem Höhepunkt der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes wurde die Regierung des Präsidenten Fernando de la Rúa im Dezember 2001 aus dem Amt gejagt. 2002 bekamen die Argentinier die Folgen voll zu spüren. Im Januar erklärte der neu eingesetzte Präsident Eduardo Duhalde das Land für zahlungsunfähig, stellte den Schuldendienst ein und koppelte den Peso vom Dollar ab. Vom festen 1:1-Wechselkurs der Menem-Ära rutschte die argentinische Währung im freien Fall auf zwischenzeitlich 1:4 zum Dollar ab und pegelte sich dann bei 1:3 ein (aktuell zahlt man 3,80 Peso für einen Dollar). Damals schrumpfte die Wirtschaft um dramatische elf Prozent. Einige Branchen wie das Bauwesen brachen sogar um über 40 Prozent ein, den Handel und die Banken traf es mit 25 Prozent. Rund die Hälfte der 40 Millionen Argentinier rutschte in den Folgemonaten unter die Armutsgrenze, jeder fünfte war arbeitslos. Heerscharen von Cartoneros, Papiersammlern, zogen nachts durch die großen Städte und durchsuchten den Müll nach Verwertbarem. In den zahllosen Volksküchen bekamen viele ihre einzige warme Mahlzeit und Kinder ihren einzigen Becher Milch am Tag.

Als die Regierung Duhalde Anfang 2002 den Schuldendienst einstellte und die Richtlinien von IWF und Weltbank ignorierte, rutschte der Ruf des Landes weiter in den Keller. Die Umschuldungsverhandlungen mit den beiden Institutionen wurden zum eisigen Pokerspiel.

Auch der folgende Präsident Néstor Kirchner ließ sich Zeit. Mitte 2004 präsentierte seine Regierung schließlich ein Umschuldungsprogramm, das den privaten Gläubigern in aller Welt die Pistole auf die Brust setzte: Entweder ihr stimmt einem Umtausch der Schulden in Höhe von rund 82 Milliarden Dollar in neue Titel mit langen Laufzeiten zu und nehmt einen Kapitalschnitt von 60 bis 70 Prozent in Kauf, oder ihr lauft Gefahr, auf wertlosen Titeln sitzen zu bleiben. Entgegen allen Prognosen hatte die Strategie Erfolg: Im Februar 2005 konnte Wirtschaftsminister Roberto Lavagna vermelden, dass 76 Prozent der Gläubiger der Umschuldung zugestimmt hatten. Die Verschuldung sank von rund 191 Milliarden Dollar (Dezember 2004) auf 125 Milliarden Dollar (September 2005). Im Januar 2006 zahlte Argentinien seine Schulden beim IWF in Höhe von 9,8 Milliarden Dollar vorzeitig zurück.

Jedoch konnte alles Bemühen den erneuten Anstieg der Verschuldung nicht verhindern. Ende vergangenen Jahres betrug die Auslandsschuld schon wieder rund 176 Milliarden Dollar. Die Wirtschaft wuchs in den Jahren 2004 bis 2010 mit Wachstumsraten zwischen sieben und neun Prozent. Nicht nur der Binnenmarkt erholte sich, auch der Warenexport hatte wegen der Abwertung des Peso wieder Fahrt aufgenommen. Dennoch leidet das Land noch immer unter den Folgen der schweren Krise. Noch immer kann sich jeder fünfte Argentinier nicht einmal mit dem Notwendigsten fürs tägliche Überleben versorgen. Die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie liegt bei einem Einkommen von knapp 320 Dollar pro Monat. Drei Millionen Argentinier werden sogar als extrem arm eingestuft. Ihre Familien müssen mit rund 100 Dollar im Monat auskommen.

Ein ähnliches Vorgehen in der Krise bleibt Griechenland nach Auffassung des argentinischen Wirtschaftsexperten Eduardo Marcelo Kohan versagt. Als Mitglied der Eurozone verfügt das Land über keine eigene Währung und könne folglich auch keine eigene Währungspolitik machen. »Den Griechen bleibt es versagt, über die Abwertung der eigenen Währung und der Weigerung, die Auflagen des Internationalen Währungsfonds umzusetzen, eine eigene politische Handlungsfähigkeit zu erlangen«, so Kohan. Während sich Argentinien einen gewissen politischen und sozialen Handlungsspielraum erhalten konnte, müssen die Griechen unter dem Druck der EU und der Kontrolle durch den IWF ihre Wirtschaft und ihre Staatsfinanzen anpassen. Deshalb sieht er eine noch größere Armutswelle auf die griechische Bevölkerung zurollen. »Und Griechenland macht in Europa möglicherweise nur den Anfang«, so Kohan.

* Aus: neues deutschland, 26. Oktober 2011


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