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Mutiger Poker in Buenos Aires

Die europäische Finanzmisere im historischen Vergleich – und was daraus zu lernen ist

Von Jörg Roesler *

Sollen zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit Griechenlands oder auch anderer europäischer Staaten weiterhin von der EU und dem IWF Rettungspakete geschnürt werden, oder ist eine Laufzeitverlängerung der Kredite, eine Verschiebung der Zahlungstermine des in Not geratenen Landes angebracht? Oder ist doch ein Schuldenschnitt, also der Verzicht der Gläubiger nicht nur auf einen Teil ihrer Rendite, sondern auf einen Prozentsatz des von ihnen geliehenen Geldes unvermeidbar? Selbst unter den Linken ist »eine Art Glaubenskrieg« darüber ausgebrochen, schreibt der Ökonom Rudolf Hickel (ND, 20. 6. 2011).

In den Diskussionen der wirtschaftlichen und sozialen Folgen des einen wie des anderen Lösungsvorschlags kommt m. E. die Berücksichtigung vergleichbarer historischer Entwicklungen zu kurz. Griechenlands Schuldenkrise ist nicht die erste dieses Ausmaßes. Argentiniens und Jugoslawiens ein Jahrzehnt bzw. drei Dezennien zurückliegende Schuldenkrise verbindet mit der gegenwärtigen griechischen eine verblüffend ähnliche Vorgeschichte.

Jugoslawien hielt sich jahrelang an die Vorgaben der Gläubiger, ob nun IWF, Weltbank oder die im Pariser Club zusammengeschlossenen Privatbanken, und legte immer neue Sparprogramme auf. Die Argentinier dagegen kamen nach drei Jahren zu dem Schluss, dass es faktisch unmöglich ist, weiter zu bezahlen. Um den befürchteten »nie dagewesenen sozialen Kollaps«, wie es hieß, zu vermeiden, entschied man sich zur Erklärung des Staatsbankrotts. Welche Folgen dieser unterschiedliche Umgang mit der Schuldenkrise für die beiden Länder hatte, verdient unser Interesse.

Die jugoslawische Schuldenkrise

Jugoslawien setzte in den 70er Jahren auf extensives Wachstum, investierte kräftig und organisierte damit Beschäftigung für das zunehmende Arbeitskräfteangebot. Die Wirtschaftsleistung des Landes wuchs aber, verglichen mit dem Einsatz von Arbeitskräften und Investitionsmitteln, quantitativ und qualitativ nur mäßig. Die Absatzchancen der in gesellschaftlichem Eigentum befindlichen jugoslawischen Unternehmen auf den seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 weniger aufnahmefähigen und heftiger umkämpften internationalen Märkten blieben deutlich hinter den Erwartungen zurück. Finanziert wurde das disproportionale Wirtschaftswachstum zunehmend durch Aufnahme von Krediten westlicher Banken, die große Summen bereitwillig zur Verfügung stellten. Jugoslawien lebte jahrelang über seinen Möglichkeiten.

Die Haltung der westlichen Banken änderte sich abrupt 1981, als Polen Schwierigkeiten hatte, seine Auslandsschulden zu bedienen und die Sowjetunion nicht bereit war, mit Devisen helfend einzuspringen. Nachdem der – wie es in einer Analyse des IWF hieß – »naive Optimismus« der jugoslawischen Staatsbanken, die »zeitweiligen« Zahlungsprobleme mittels der Aufnahme kurzfristiger Kredite zu lösen, an der Verweigerungshaltung der internationalen Privatbanken gescheitert war, musste sich Jugoslawien, um zahlungsfähig zu bleiben, auf einen ersten von IWF und Banken westeuropäischer Staaten im Januar 1983 in Zürich beschlossenen Plan zur Konsolidierung seiner Finanzen einlassen. Als Gegenleistung für Kredite in Höhe von 600 Millionen USD billigte die Bundesversammlung der jugoslawischen Föderation im Juli 1983, nach hitzigen Debatten und starken Bedenken eines Teils der Abgeordneten, einschneidende Maßnahmen: Einerseits wurde westlichem Kapital und westlichen Warenlieferanten der jugoslawische Markt geöffnet, andererseits das Einkommen der Masse der Bevölkerung »zur Drosselung des Nachfrageüberhangs und zur Eindämmung der Inflation« begrenzt. Im Ergebnis sanken die Reallöhne gegenüber 1980 um 40 Prozent. Die offene Arbeitslosigkeit stieg auf 14 Prozent.

In Abständen von zwei bis drei Jahren gab es für Jugoslawien neue »Rettungspakete« und weitere Konsolidierungsprogramme. Der Höhepunkt war das Ende 1989 beschlossene, ab Januar 1990 verwirklichte Markovic-Sachs-Programm, benannt nach dem seit 1989 amtierenden jugoslawischen Präsidenten Ante Markovic und seinem Chefberater, dem US-amerikanischen Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sachs. Das Programm sah vor, illiquide Banken und unrentable Betriebe gesellschaftlichen Eigentums zu privatisieren oder zu schließen. Die Löhne wurden eingefroren, 85 Prozent aller Einzelhandelspreise dagegen freigegeben. Die Folgen waren katastrophal. Die Reallöhne sanken rasant, Sozialprogramme brachen zusammen. Das ließ in der Bevölkerung ein Gefühl der Verzweifelung und Hoffnungslosigkeit entstehen.

Dabei hatten die hauptsächlich von den Sparmaßnahmen Betroffenen, die Arbeiter, die Katastrophe von 1990 keineswegs passiv abgewartet. Bereits 1984, als das erste Konsolidierungsprogramm wirksam wurde, hatte es eine Protestwelle gegen drohende Betriebsschließungen gegeben. Die Streiks nahmen in Makedonien, einer der wirtschaftlich schwächsten Teilrepubliken, ihren Ausgangspunkt. 1987 erreichte die Streikbewegung ihren Höhepunkt. 1570 Streiks mit 380 000 Teilnehmern wurden gezählt. Die Bergarbeiter in Slowenien forderten neben Lohnerhöhungen auch die Ablösung des Managements sowie der Betriebsgewerkschaftsführung. Die jugoslawischen Gewerkschaften hatten sich hinter die Sparprogramme der Regierung gestellt und sich bei »wilden Streiks« teilweise sogar an der Suche nach den »Rädelsführern« beteiligt. Die Bevölkerung sah ihre Interessen weder von der Bundesregierung noch von den Gewerkschaften vertreten und wandte sich immer mehr den nationalistischen Führern wie Slobodan Milosevic in Serbien oder Franjo Tudjman in Kroatien zu. Je deutlicher die verheerenden ökonomischen und sozialen Folgen des Markovic-Sachs-Programms wurden, desto stärker wurden die Separatisten. 1991, als das Bruttosozialprodukt Jugoslawiens um 20 Prozent sank, brach die jugoslawische Föderation auseinander.

Die argentinische Schuldenkrise

Argentiniens Wirtschaft hatte sich in der ersten Hälfte der 90er Jahre günstig entwickelt. 1996 lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 37 Prozent über dem von 1990. Das Verdienst dafür nahm der 1989 zum Präsidenten gewählte rechte Peronist Carlos Menem für sich in Anspruch. Seine neoliberale Politik der Öffnung zum Weltmarkt und des Verkaufs der Unternehmen des unter der Präsidentschaft Perons (1946 bis 1955) in Argentinien bedeutend gewordenen staatlichen Sektors in Industrie und Verkehr schien sich auszuzahlen. Was die Bevölkerung Menem besonders anrechnete, war die 1991 vollzogen Anbindung des argentinischen Peso an den US-Dollar zu einem festen Wechselkurs, womit die bis dahin grassierende Inflation gestoppt werden konnte.

Gerade diese Maßnahme stellte sich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre als kontraproduktiv für Argentinien heraus. Durch die zunehmende Konkurrenz auf den Weltmärkten sank die Exportfähigkeit des Landes. Die am ehesten geeignete Gegenmaßnahme – Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes durch Abwertung des Peso – war wegen der Anbindung des Peso an den Dollar nicht möglich. Andere lateinamerikanische Länder wie Mexiko und Brasilien hingegen werteten ihre Währungen ab und verschafften sich damit gegenüber Argentinien einen Konkurrenzvorsprung.

Um das Handelsdefizit auszugleichen, nahm Argentinien international Kredite auf. Allein zwischen 1996 und 1999 stiegen die Staatschulden um 36 Prozent. Das beunruhigte ausländische Investoren, sie begannen sich aus dem argentinischen Markt zurückzuziehen. Das Wirtschaftswachstum der La-Plata-Republik verlangsamte sich, während die Arbeitslosigkeit rasch zunahm. Die Arbeiter in von Schließung bedrohten Betrieben wehrten sich. Da die peronistischen Gewerkschaften die staatliche Wirtschaftpolitik weiterhin unterstützten, organisierten die Arbeiter sich in Selbsthilfegruppen. Mit ihren Protesten, z. B. in Form von Straßenblockaden, die zu erheblichen Verkehrsproblemen führten, erreichten die Piqueteros einige ihrer Ziele, so die Einführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Menems neoliberale Wirtschaftspolitik wurde von seinem 1999 antretenden Nachfolger Fernando de la Rua fortgesetzt. Argentiniens Verschuldung stieg weiter an. Die US-amerikanische Rating-Agentur Standard & Poors begann laut darüber nachzudenken, ob Argentiniens Bonität nicht zurückzustufen sei. Im Dezember 2000 hieß es, Argentinien werde seine Schulden bald nicht mehr bezahlen können. Eine IWF-Delegation eilte nach Buenos Aires, um die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden. Ein Rettungspaket wurde geschnürt, das sich auf nahezu 40 Milliarden US-Dollar belief, davon kamen fast 14 Milliarden vom IWF.

Die Finanzspritze war an Bedingungen geknüpft. Die Regierung wurde zu einem strikten Sparprogramm verpflichtet. Das Stabilisierungsprogramm erhöhte die (offizielle) Arbeitslosenquote auf 15 Prozent und die Armutsquote auf 30 Prozent. Die Proteste nahmen zu. Wiederholt kam es zu schweren Straßenschlachten mit der Polizei. Immer wieder gab es Tote und Verletzte. Eine wirtschaftliche Gesundung brachte das IWF-initiierte Sparprogramm nicht. Die Bevölkerung wehrte sich mit Generalstreik. 2001 lösten sich innerhalb von 14 Tagen drei Präsidenten einander ab. Die Wirtschaftskrise aber ging unvermindert weiter.

Eine wirtschaftspolitische Wende wurde erst 2003 eingeleitet, als der linke Peronist Nestor Kirchner die Abwertung des Peso gegenüber dem Dollar zum Schutz der einheimischen Wirtschaft und zur Verringerung der Importe einsetzte sowie staatliche Anreize zur Exportförderung organisierte, um wieder eine positive Handelsbilanz zu erreichen. Der bisherigen Schuldenpolitik erteilte Kirchner eine Abfuhr. Die Schulden des Staates seien nicht von dieser Regierung, argumentierte Kirchner. Man werde sie nicht begleichen, wenn dafür mehr Hunger, mehr Armut und verschärfte soziale Konflikte in Kauf zu nehmen seien.

Der Präsident bot eine Wiederaufnahme des Schuldendienstes gegenüber privaten Gläubigern nur für den Fall an, dass diese auf die Rückzahlung von drei Viertel ihrer 81 Milliarden US-Dollar betragenden Wertpapiere verzichteten. Was Kirchner vorschlug, war die größte Umschuldung in der modernen Finanzgeschichte. Er forderte von den Banken einen Vermögens- und Einkommensverzicht in Milliardenhöhe. Kirchners Ansinnen wurde deshalb nicht nur von den privaten Gläubigern, sondern auch von den internationalen Finanzinstitutionen als unerhört empfunden. »Kirchner pokert hoch« und »Vabanquespiel des Präsidenten« titelte tadelnd die internationale Presse.

Bankrotterklärung ist nicht das Ende

Die argentinische Regierung, die in der Verschuldungsfrage den größten Teil der Bevölkerung hinter sich wusste, widerstand dem Druck von IWF und Weltbank wie auch dem des Pariser Clubs und erreichte nach zähen Verhandlungen Ende 2004 einen Schuldenerlass von immerhin 50 Prozent ihrer Verbindlichkeiten gegenüber privaten Gläubigern.

Indiz für die Wiedergesundung der Wirtschaft war das Wachstum des argentinischen Bruttosozialprodukts. Es stieg seit 2003 jährlich zwischen acht und neun Prozent. Das Handelsbilanzplus erhöhte sich allein zwischen 2004 und 2006 von 3,2 auf 6 Milliarden US-Dollar, die Arbeitslosigkeit sank auf 7,5 Prozent. Argentiniens Devisenreserven erhöhten sich vor allem durch die Ausweitung seiner Agrarexporte. Das versetzte die Regierung in die Lage, nicht nur ihren laufenden Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, sondern erlaubte ihr vorzeitige Rückzahlungen (verbunden mit entsprechenden Einsparungen bei Zinszahlungen). Bereits Ende 2005 konnte das Land seine Schulden gegenüber dem IWF in Höhe von 9,85 Milliarden US-Dollar zurückzahlen. 2008 beglich Kirchners Nachfolgerin, seine Frau Cristina Kirchner, Argentiniens Verbindlichkeiten gegenüber den im Pariser Club zusammengeschlossenen Banken in Höhe von 6,7 Milliarden Euro.

Fazit: Eine erfolgreiche Krisenbekämpfung setzt – das zeigt das Beispiel Argentiniens gegenüber Jugoslawien – staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik voraus, in Kombination mit dem Schutz der einheimischen Industrie vor ausländischen Konkurrenten und Exportförderung sowie begleitet von sozialpolitischen Maßnahmen zur direkten Erhöhung von Beschäftigung und Kaufkraft. Die Bankrotterklärung eines Landes muss nicht das Ende aller ausländischen Kredite und damit Investitionen bedeuten, sondern kann die Chance für einen wirtschaftlichen Neuanfang aus eigener Kraft nach Jahren ökonomischer Abhängigkeit von ausländischen Kreditgebern bieten.

* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2011


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