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"Argentinien braucht keine internationalen Kredite"

Der Konflikt zwischen Regierung und Zentralbank bringt das Thema Schuldenboykott wieder auf Tagesordnung. Ein Gespräch mit Julio Gambina

Julio Gambina ist Professor für Ökonomie und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von ATTAC-Argentinien.



Nach einem Monat Streit zwischen der argentinischen Regierung und der Zentralbank hat Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner Notenbankchef Martín Redrado entlassen. Worum ging es in dem Konflikt?

Wenn die Regierung ihre aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik fortsetzen will, braucht sie neue Finanzquellen. Da Argentinien aber seit dem Staatsbankrott von 2002 die Bedienung der privaten Schulden eingestellt hat, ist der Staat für die internationalen Finanzmärkte ein rotes Tuch. Um das Ansehen des Landes zu verbessern und wieder kreditwürdig zu werden, will die Präsidentin nun die Hälfte der für 2010 fälligen Schulden aus Devisenbeständen der Zentralbank begleichen. Doch Redrado weigerte sich, die vorgesehenen sechs Milliarden US-Dollar freizugeben und beschwor die Unabhängigkeit seiner Institution. Daraufhin wurde er entlassen.

Dahinter steht aber auch ein Konflikt zwischen Regierung und Parlament, denn die rechte Opposition will verhindern, daß die Dollarreserven für die Tilgung genutzt werden. Sie will die Schulden aus dem laufenden Haushalt bezahlen – natürlich mit dem Ziel, den sozialpolitischen Spielraum der Regierung zu minimieren.

Die deutschen Medien werten den Konflikt vornehmlich als Machtkampf zwischen einer populistischen Präsidentin und einem aufrechten Notenbankchef. Die Financial Times Deutschland stilisierte ihn gar zum »Che Guevara der Zentralbank« ...

Redrado ist meilenweit davon entfernt, ein Che Guevara von irgendwas zu sein. Er ist ein lupenreiner Technokrat. Seine Karriere begann während der 90er Jahre unter der ultraneoliberalen Regierung von Carlos Menem. Er ist an den besten Wirtschaftsfakultäten der Welt ausgebildet worden und hat hervorragende Beziehungen zum nationalen und internationalen Finanz­establishment.

Wie positioniert sich die Linke in diesem Konflikt?

Uns geht es nicht darum, aus welchem Topf die Auslandsschulden bezahlt werden, sondern darum, ob sie überhaupt gezahlt werden – sie sind nämlich illegitim. Argentinien hat mit mehr als 46 Milliarden US-Dollar so viele Devisenreserven wie noch nie zuvor. Die Frage ist doch, ob dieses Geld dazu verwendet werden soll, irgendwelche Abkommen mit Gläubigern zu schließen oder dazu, die enorme soziale Schuld des Staates an seiner Bevölkerung zu begleichen. Bei uns leben immer noch 30 Prozent der Bevölkerung in Armut.

Warum sind die Auslandsschulden illegitim?

Sie stammen im wesentlichen aus der Militärdiktatur – zwischen 1976 und 1983 stiegen sie von 8,2 auf 43,5 Milliarden US-Dollar. Das war in erster Linie der enormen Aufrüstung geschuldet – wie etwa für den Falklandkrieg gegen Großbritannien im Jahr 1982. Wichtiger noch war ein internationaler Faktor: 1979 kam es zum sogenannten Volcker-Schock. Auf Geheiß des damaligen Chefs der Zentralbank, Paul Volcker, erhöhten die USA 1979 damals den Leitzins. Unsere Zinszahlungen verdreifachten sich daraufhin.

Würde eine Nichtzahlung Argentinien nicht von internationalen Kreditmärkten ausschließen?

Gegenfrage: Ist es überhaupt nötig, daß Argentinien internationale Kredite bekommt? Heute zahlen wir für einen Kredit am Markt etwa 15 Prozent Zinsen. Auch nach Bedienung der Auslandsschuld, wie sie die Regierung plant, würden die Zinsen immer noch bei neun bis zehn Prozent liegen.

Argentinien braucht aber überhaupt keine internationale Finanzierung - 2009 haben wir trotz negativen Wachstums einen Überschuß in der Handelsbilanz erzielt. Der Staat muß vielmehr seine ökonomische und gesellschaftliche Ordnung verändern. Und das geschieht zur Zeit nicht.

Wer soll ein solches Projekt auf nationaler Ebene voranbringen? In der Regierungspartei findet sich dafür wohl keine Mehrheit.

Seit der Wahl im Juni hat sich die politische Landkarte verändert. Mit dem Projekt des Südens (Proyecto Sur), das in der Hauptstadt auf knapp 24 Prozent kam, gibt es nun erstmals eine bedeutende parlamentarische Kraft links der Regierung. Zum Beispiel hat diese neue Partei kürzlich den Antrag eingebracht, die Rechtmäßigkeit der Auslandsschulden gerichtlich untersuchen zu lassen.

Interview: Johannes Schulten

* Aus: junge Welt, 15. Februar 2010


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