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"Eine Schande für die Argentinier"

Präsidentin Kirchner protestiert spektakulär gegen Freilassung von elf ehemaligen Marineoffizieren

Von Nick Kaiser *

Einen symbolträchtigen Ort hatte sich die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner für die Ehrung der Menschenrechte ausgesucht. In der ehemaligen Marinehochschule für Mechanik (ESMA) von Buenos Aires verlieh sie am Donnerstag abend dem Schriftsteller Osvaldo Bayer sowie der Auschwitz-Überlebenden und Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation »Madres de Plaza de Mayo« Sara Rus den Menschenrechtspreis »Azucena Villaflor«. Eben diese Schule erlangte als größtes geheimes Folterzentrum während der Militärdiktatur in Argentinien (1976–1983) traurige Bekanntheit. Hier wurden mehr als 5000 Menschen gefangen gehalten und nie wieder gesehen. Insgesamt forderte die Herrschaft der Generäle 30000 Opfer.

Am 10. Dezember jährte sich zum 25. Mal das Ende der Diktatur, doch hat das südamerikanische Land noch immer mit dessen Erbe zu kämpfen. So holte die Vergangenheit auch am Donnerstag abend die Präsidentin ein. Während der Feier in der ESMA mußte sie zur Nachricht Stellung nehmen, daß ein Gericht die Freilassung elf ehemaliger Marineoffiziere angeordnet hatte. Sie hätten sich seit mehr als zwei Jahren in Beugehaft befunden. Das sei nicht rechtmäßig. Unter den Offizieren, denen vielfache Freiheitsberaubung und Folter vorgeworfen wird, befindet sich auch der wegen der Ermordung zweier französischer Nonnen in Frankreich und Italien zu lebenslanger Haft verurteilte Alfredo Astiz, der seine Verbrechen in der ESMA begangen hat. Dort sagte Cristina Kirchner nun: »Dieses Urteil ist eine Schande für die Argentinier, die Menschheit und unser Rechtssystem.«

Der auch nach Wiedereinführung parlamentarisch-demokratischer Verhältnisse vorhandene große Einfluß des Militärs verhinderte, daß die Mitglieder der Junta für ihre Verbrechen ernst zu nehmende Haftstrafen absitzen mußten. Mit dem »Schlußpunktgesetz« von 1986 und dem »Befehlsnotstandsgesetz« von 1987 gewährte ihnen die Regierung Raúl Alfonsín eine Amnestie, und auch dessen Nachfolger Carlos Menem legte kein Interesse an den Tag, sich mit den Generälen und Admiralen anzulegen. Erst der 2003 gewählte Néstor Kirchner, der sich als progressiver Peronist versteht, wagte es, die Amnestiegesetze in Frage zu stellen, und 2005 wurden sie für verfassungswidrig erklärt. Seitdem sehen sich Kirchner und seine Nachfolgerin, seine Ehefrau, allerdings mit einem weiteren mächtigen Widersacher konfrontiert, der den Gerechtigkeitsprozeß verschleppt und blockiert: der argentinische Justizapparat.

Der hat auch zu verantworten, daß es ebenfalls bis zum 10. Dezember dieses Jahres dauerte, bis der Fund eines Massengrabs mit mehr als 10000 Knochenfragmenten, der Asche verbrannter Leichen und einer Mauer mit über 200 Einschußlöchern auf dem Gelände eines ehemaligen geheimen Gefangenenlagers in der Stadt La Plata bekanntgegeben werden konnte. Die Gerichtsmediziner hatten zwölf Jahre lang auf die Erlaubnis warten müssen, das gesamte Gelände abzusuchen. Der »Pozo de Arana«, 60 Kilometer von Buenos Aires entfernt, ist das erste nachgewiesene Massengrab in einem ehemaligen Gefangenenlager.

* Aus: junge Welt, 20. Dezember 2008


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